Warum Kinder aus den Strassen unserer Städte verschwunden sind
Der öffentliche Raum ist nicht mehr kinderfreundlich. Mehrere Städte auf der ganzen Welt, darunter auch Basel, wollen die Kinder zurückholen und haben dafür Projekte ins Leben gerufen.
Ausserhalb von Pausenplätzen trifft man immer seltener auf Kinder, die auf der Strasse spielen oder selbstständig zu Fuss zur Schule gehen.
Manchmal wird auch von der „Generation Rückbank“ gesprochen, was sich auf die Kinder bezieht, die die Stadt durch das Fenster eines Autos sehen. Ganz zu schweigen von „No Kids“-Orten oder -Veranstaltungen – Cafés, Hotels oder Hochzeiten –, wo sie offiziell nicht mehr willkommen sind.
Mobilität und Digitalisierung
„Über das Ende des 20. und den Beginn des 21. Jahrhunderts hinweg hat sich ein langfristiger Prozess des Rückzugs von Kindern aus öffentlichen Räumen fortgesetzt“, bestätigt der Soziologe Clément Rivière, Autor des Buches „Leurs enfants dans la ville“, in der Sendung „Tout un monde“ von RTS.
Es gibt viele Gründe für diesen Rückgang. Das Auto wird sehr häufig genannt: Die Städte wurden nach und nach so gestaltet, dass während der Hauptverkehrszeiten möglichst viele Fahrzeuge fahren können. Fussgänger:innen, insbesondere Menschen mit eingeschränkter Mobilität und Kinder, haben in diesem Zusammenhang keine Priorität.
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Auch die Digitalisierung wird erwähnt. Soziale Netzwerke ermöglichen es, mit Freund:innen zu kommunizieren und sich mit ihnen zu treffen, ohne sich fortzubewegen, gleichzeitig hat beispielsweise mit dem Aufschwung der Videospiele die Freizeitgestaltung zu Hause an Vielfalt gewonnen. Auch die verschiedenen online verfügbaren Dienste erhöhen die Tendenz, zu Hause zu bleiben.
Höheres Risikobewusstsein
Die Gesellschaft hat auch ein grösseres Bewusstsein für die Risiken, denen Kinder ausgesetzt sind. „Das ist etwas, das sich in Europa sehr verstärkt hat, insbesondere nach dem Fall Dutroux in Belgien in den 1990er-Jahren“, sagt Rivière.
Das hat eine sehr starke soziale Sichtbarkeit dieser Figur des Pädophilen und eine sehr starke Angst (…) geschaffen, dass Kinder im öffentlichen Raum eine unliebsame Begegnung haben könnten.“
Generell wurden Kinder im Laufe des 20. Jahrhunderts „zunehmend als verletzliche Wesen wahrgenommen“, so Rivière. Die Normen für Elternschaft haben sich weiterentwickelt.
Der Soziologe erzählt, dass er sich mit Eltern ausgetauscht hat, die sich daran erinnerten, in ihrer Kindheit allein durch Grossstädte gezogen zu sein, aber nicht daran denken würden, ihre Kinder das Gleiche tun zu lassen.
Die Eltern hätten ein stärkeres Bewusstsein für Risiken entwickelt, sagt er. Dazu geführt haben das Verhalten von anderen Eltern, die Schule sowie der öffentliche Diskurs.
Seiner Meinung nach ist diese Dynamik problematisch, vor allem, weil sie den Zeitpunkt verzögert, zu dem Jugendliche in der Stadt selbstständig werden. „Das bedeutet, dass ihr Mobilitätsradius abgenommen hat, ebenso wie die Zeit, die sie autonom im öffentlichen Raum verbringen“, erklärt er.
In der Schweiz hat Basel 2019 «Augen auf 1,20 m»Externer Link gestartet, ein Projekt, bei dem das urbane Mobiliar und Schilder an die Grösse von Kindern angepasst werden. Ausserdem sollen gemeinsam mit ihnen die Bauvorschriften umgeschrieben werden, wobei ihre Vorschläge berücksichtigt werden.
Die Stadt Fano in Italien bietet mit einem Logo gekennzeichnete Geschäfte an, in denen die Kinder wissen, dass sie um Hilfe bitten können und sich sicher fühlen. „Es gibt einen für Kinder auffindbaren Punkt, an dem sie wissen, dass diese Händler sich verpflichten, ihnen zu helfen, wenn sie nach dem Weg fragen oder auf die Toilette gehen wollen“, erklärt Sylvain Wagnon, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Montpellier.
In Spanien hat die Stadt Barcelona in einigen Strassen grüne, halbwegs fussgängerfreundliche Inseln geschaffen, die die Bewohner:innen auf ihre Weise nutzen können. Die Aktivitäten dort werden also in einem Viertel mit vielen Kindern anders sein als umgekehrt in einer Gegend, die eher von älteren Menschen bewohnt wird.
Diese Entwicklung ist kein unabwendbares Schicksal. Verschiedene Gemeinden auf der ganzen Welt haben in den letzten Jahren Projekte ins Leben gerufen, um „die Stadt den Kindern zurückzugeben“.
Sie wollen einen inklusiven öffentlichen Raum anzubieten, der von Kindern und für Kinder gedacht und an die Gegebenheiten der jeweiligen Länder angepasst ist. In Basel wurde dafür 2019 das Projekt „Augenhöhe 1,20“lanciert.
Kreativität und das Gefühl von Abenteuer
Eine kinderfreundlichere Stadt bedeutet auch vielgestaltige Orte, deren Nutzung nicht von Stadtplanern oder Behörden diktiert wird.
Die Pariser Architektin Madeleine Masse, die sich mit Fragen der Inklusion beschäftigt, erklärt, dass in ihren Gesprächen mit Kindern bestimmte Dinge immer wieder auftauchen.
„Sie sprechen von Farben, Vegetation, kleinen Böschungen…. Die Tatsache, dass es ein Relief gibt, dass sie auf Vorsprünge klettern, sich hinter einem Baum verstecken, aber auch Möbel bewegen, die Umgebung umgestalten, Dinge zeichnen können (…) Die Landschaft der Stadt ist sehr mineralisch und bietet nicht wirklich diese Freiräume oder Gestaltungsmöglichkeiten.“
Ihrer Meinung nach erfüllen die städtischen Spielplätze diese Erwartungen nicht. Sie sagt: „Es bleiben geschlossene Räume, in die die Kinder gebracht und von Erwachsenen beaufsichtigt werden, und begrenzte und hyperkodifizierte Räume“, die die Kinder nicht unbedingt spontan aufsuchen wollen.
„Was sie vor allem wollen, ist, sich ein bisschen autonom zu fühlen, einen Ort allein aufsuchen zu können oder zumindest das Gefühl zu haben, es allein zu tun. Dieses Gefühl von Abenteuer und Stolz ist verdammt wichtig», sagt Masse.
Eine politische Herausforderung
Expert:innen zufolge ist es eine Investition, die einen positiven Kreislauf in Gang setzt, wenn man die Stadt für Kinder gestaltet. Als Bürger:innen von morgen werden sie sich mehr um ihre Stadt kümmern, wenn sie sie nach ihrem Geschmack gestalten konnten.
Und das wirft auch eine sehr politische Frage auf, erinnert Clément Rivière: die Frage der Begegnung, der sozialen Mischung und des Zusammenlebens.
„Im öffentlichen Raum begegnet man den Anderen in Bezug auf Religion, Hautfarbe oder soziale Klasse. Und wenn man immer mehr zu Hause ist und immer weniger dieser Vielfalt ausgesetzt ist, kann das mit der Zeit ein demokratisches Problem darstellen.“
Dies ist auch Teil eines grösseren Kontexts, in dem es darum geht, verschiedene, historisch gesehen weniger dominante soziale Gruppen in die Stadt einzubeziehen. Und den öffentlichen Raum als Rückzugsort für die Bevölkerung zu überdenken. Insbesondere für diejenigen, die in kleinen Wohnungen leben.
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