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Der heilige Gral der Pharma-Industrie: Personalisierte Medikamente

Chemiker an der Arbeit
Grosse Pharma-Konzerne wie Roche und Novartis kombinieren technologische Fortschritte mit dem Zugang zu realen Daten und genetischer Sequenzierung um Medikamente zu entwickeln, die auf die individuellen Biomarker einer Person zugeschnitten sind. Roche

Im Zeitalter von Sensoren, Wearables und künstlicher Intelligenz (KI) kann fast alles an individuelle Vorlieben und Verhaltensweisen einer Person angepasst werden. Gemäss Diskussionen am diesjährigen Weltwirtschafts-Forum (WEF) in Davos ist als Nächstes der Gesundheitssektor dran.

Die Digitalisierung bietet Pharma-Unternehmen das, was Genya Dana, die das WEF-Zentrum für die Vierte Industrielle RevolutionExterner Link leitet, als «heiligen Gral» der Medizin bezeichnet: Das richtige Medikament für den richtigen Patienten zum richtigen Moment.

Stellen Sie sich vor, dass der tragbare Schrittzähler an Ihrem Handgelenk Ihnen nicht nur hilft, fit zu bleiben, sondern auch unzählige Datenmengen an Pharma-Unternehmen sendet, damit diese potentiell lebensrettende Therapien entwickeln können.

Dies ist das Herzstück einer der aufregendsten, aber auch dornigsten Entwicklungen im Gesundheitssektor. Grosse Pharma-Konzerne wie RocheExterner Link und NovartisExterner Link kombinieren technologische Fortschritte mit dem Zugang zu realen Daten und genetischer Sequenzierung um Medikamente zu entwickeln, die auf die individuellen Biomarker einer Person zugeschnitten sind.

Roche-Verwaltungsratspräsident Christoph Franz sagt, das Potential der Digitalisierung zur Umgestaltung der Gesundheitsversorgung sei bisher erst an der Oberfläche angekratzt worden. In einem Interview am Rande des WEF erklärte er gegenüber swissinfo.ch: «Wir stehen erst am Anfang eines Erkennungsprozesses, wie Instrumente aus der digitalen Welt im Gesundheitswesen helfen können.»

Nach Ansicht von Fachleuten hinkt der Gesundheitssektor bei der Digitalisierung hinterher. Gisbert Schneider, Leiter der Abteilung für Computer-Assisted Drug DesignExterner Link (computergestützte Medikamenten-Entwicklung) der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ), der viele Jahre in der Pharma-Industrie gearbeitet hatte, erinnert sich an die negativen Bilder gewisser KI-Instrumente aus den 1990er-Jahren.

Gegenüber swissinfo.ch erklärte Schneider: «Diese Technologien wurden in Verbindung gebracht mit Filmen wie Terminator. Ein wichtiges Thema war die Akzeptanz durch Wissenschafter. Das andere Problem war die Verfügbarkeit von Daten-Werkzeugen.»

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Gut zwanzig Jahre später ist die Industrie dabei, verlorene Zeit wettzumachen. Im letzten Jahr übernahm Roche für mehr als 3 Milliarden Dollar die Foundation Medicine, Inc (FMI), eine Firma, die genetische Profile erstellt, sowie die auf Daten von Krebspatienten fokussierte Flatiron Health.

Der Roche-Konzern baut damit seine Kapazitäten für die Digitalisierung weiter aus. Diese Entwicklung folgt auf die Übernahme von Genentech vor rund 10 Jahren für mehr als 47 Milliarden Dollar. 

Der Roche-Konkurrent Novartis heuerte seinerseits im letzten Jahr Bertrand Bodson für die neu geschaffene Position als Chief Digital Officer an. Bodson hatte zuvor leitende Stellungen bei Amazon und anderen Tech-Unternehmen inne. Zudem lancierte der Konzern Novartis BiomeExterner Link, ein Labor für digitale Innovation sowie eine Reihe von Initiativen für offene Innovation.

Mark Lee, Entwicklungsleiter für personalisierte Medizin bei Roche, erklärte in einem Interview im Vorfeld des WEF: «Wir können mehr Daten erfassen als je zuvor, um hochauflösende Porträts von Leuten zu erstellen und herauszufinden, welchen Verlauf eine Krankheit nimmt.»

Die Suche nach Antworten

«Die Schlüsselfrage», glaubt Gisbert Schneider, «ist, inwieweit KI in der Lage sein wird, klinische Ergebnisse vorauszusagen und die Eigenheiten eines jeweiligen Patienten anzugehen».

Franz erklärt, sein Unternehmen sei auf dem Weg dorthin, nachdem es mit Hilfe seiner jüngst erfolgten Akquisition von Flatiron für eine Reihe klinischer Versuche Einsicht in Daten aus Krankenakten hatte, die von Ärzten oft handschriftlich festgehalten worden waren. Flatiron überträgt diese Daten in eine digital auswertbare Form.

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An einer Presseorientierung in Davos sagte Franz, der Konzern habe Kontrollgruppen teilweise simulieren können. Und habe somit keine Patienten suchen müssen, die in einer klinischen Studie ein Placebo erhalten hätten. «Für uns ist das wichtig, da die klinischen Versuche so beschleunigt werden können.»

Die Resultate halfen Roche, beim britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) die Rückerstattung für eines seiner Krebsmedikamente sicherzustellen. Lee erklärte, dies sei vor allem bedeutungsvoll im Fall von seltenen Krebserkrankungen, wo es oft nicht genug Leute für eine Studie gebe. Stattdessen könne man sich auf Daten verlassen, die aus Krankenakten erhoben würden.

Neben Krankenakten beginnt die Pharma-Industrie auch damit, Daten direkt bei Patienten zu erheben, durch Apps, Sensoren oder Wearables. Roche entwickelte zum Beispiel Flood LightExterner Link, eine App, die Informationen aus dem Alltag von Patienten mit multipler Sklerose erfasst.

«Es ist ähnlich wie Beurteilungen durch einen Arzt in einer Klinik, bloss erfolgen diese nur einige Mal pro Jahr. Auf einem Smartphone kann ein Patient dies jeden Tag tun», erklärte Lee.

Passiv misst die App auch das Verhalten, um Hinweise darauf zu geben, wie eine Person mit ihrer Krankheit umgeht. Die Information geht an den Patienten, und dann auch an Leistungserbringer im Gesundheitswesen und an Pharma-Firmen, damit diese Therapien massgeschneidert anpassen können.

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen wird unterstützt durch Durchbrüche bei der genetischen Sequenzierung. Die geschätzten Kosten, um ein ganzes Genom zu sequenzieren, sind seit der ersten vollständigen Sequenzierung 2003 drastisch gesunken. Zudem ist die Anzahl der identifizierten Varianten im menschlichen GenomExterner Link, die mit der menschlichen Gesundheit in Verbindung stehen, signifikant gestiegen – von 62’000 im Jahr 2013 auf 850’000 im Jahr 2018.

Ausgerüstet mit dieser genetischen Information verlagern Pharma-Unternehmen die traditionelle Behandlung von Krebs, die sich auf die Lokalisierung von Tumoren konzentriert, auf die direkte Behandlung der Mutation, was mehr Möglichkeiten zur Präzision mit sich bringt.

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Die restlichen 96%

Einer der grössten Vorteile der Digitalisierung ist das Potential, wahrscheinlichen Nutzen zu identifizieren, um Medikamente zu entwickeln, die auf einzigartigen Biomarkern von Leuten fussen, die nicht an klinischen Studien teilnehmen – anders gesagt, 96% aller Patienten und Patientinnen.

Aber gewisse Fachleute sind nicht ganz von der ausgleichenden Kraft der Präzisionsmedizin (auch als personalisierte Medizin bezeichnet) überzeugt. In einem Artikel im Vorfeld des WEF schrieben Patrick Courneya von der Kaiser Foundation Health Plan and HospitalsExterner Link* und Michael Kanter von der Kaiser Permanente Federation*: «Präzisionsmedizin wird weit hinter ihren Versprechen zurückbleiben, wenn ihre Kosten so hoch sind, dass sie nicht für alle zugänglich ist.»

Eine weitere Hürde ist die Akzeptanz von Gentests in der Öffentlichkeit, wo zum Beispiel die Assoziation mit «Designer-Babys» ethische und rechtliche Debatten ausgelöst hat.

Im Zeitalter des Facebook-Cambridge Analytica-Skandals gibt es Bedenken, dass solche intimen persönlichen Gesundheitsdaten missbraucht werden könnten. Lees Kollege Ron Park, der bei Roche den kommerziellen Bereich für personalisierte Medizin leitet, sagt: «Was das Vertrauen angeht, ist es unsere Pflicht, uns für höchste Datenschutzstandards einzusetzen. Aber wir müssen uns auch über die Vorteile im Klaren sein. Letzten Endes aber müssen die Patienten Risiken und Nutzen abwägen.»

Ist Technologie die Zukunft von Pharma?

Technologie-Firmen, die neu in den Pharma-Sektor einsteigen, werfen Fragen auf, wie der Pharma- den Tech-Sektor verändern wird – oder umgekehrt. Schneider sieht den Tag kommen, an dem Unternehmen wie «Alibaba, Google oder IBM Medikamente auf den Markt bringen werden. Es geht um ein grosses Geschäft und die Pharmaindustrie wird sich anpassen müssen. Ich weiss nicht, ob dies eine gute oder eine schlechte Sache ist.»

Jörg Reinhardt, der Verwaltungsratspräsident von Novartis, äussert sich nicht in gleichem Mass besorgt über das Tech-Aufkommen. In einem kurzen Interview mit swissinfo.ch am Rande des WEF sagte er, «Amazon dürfte auf den Markt für den Vertrieb von Medikamenten drängen, aber dies ist ein kleiner Teil des Pharma-Geschäfts. Sind Medikamente einmal auf dem Markt, könnten Tech-Firmen sich breit machen, aber ich mache mir keine Sorgen, dass Tech-Unternehmen in die eigentliche Pharmaindustrie vorstossen werden.»

*Kaiser Permanente ist ein integriertes Gesundheitssystem-Unternehmen (Ärztegruppen, Spitäler und Krankenversicherung) in den USA.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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