Wenn Gewalt die Gefühle ersetzt
Hat die Bluttat an den Geschwistern Rey-Bellet dazu geführt, dass potentielle Opfer vermehrt Beratungsstellen und Frauenhäuser aufsuchen?
Laut Expertinnen war dies nicht der Fall. Allerdings herrsche zur Zeit so oder so eine eher hohe Nachfrage.
«Nein, einen Run auf Frauenhäuser und Beratungsstellen haben wir nach dem Verbrechen an Corinne Rey-Bellet nicht verzeichnet», erklärt Ruth Greber, Geschäftsführerin der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern gegenüber swissinfo.
Es gebe jedoch Wellenbewegungen. Momentan sei man in einer Phase hoher Nachfrage, dies aber bereits vor dem Verbrechen an Corinne Rey-Bellet, sagt Ruth Greber weiter.
Diese Einschätzung teilt auch Agnes Flühmann, Fachstellenleiterin eines Frauenhauses im Schweizer Mittelland: «Wir waren in letzter Zeit bis auf den letzten Platz ausgebucht.» Unter den Bewohnerinnen ihres Frauenhauses war das Verbrechen an der Schweizer Ex-Skirennfahrerin aber kein dominantes Thema.
«Der Vater einer unserer Frauen sagte jedoch, dass so etwas auch ihr hätte passieren können», erklärt Agnes Flühmann. Dies sei insofern bemerkenswert, da oft gerade der engste Familienkreis die Augen vor drohenden oder bereits stattgefundenen Gewaltakten verschliesse.
Nicht aus «heiterem Himmel»
Ehefrauen und andere Familienmitglieder werden nicht einfach so aus ‹heiterem Himmel› getötet. «In den meisten Fällen liegen vor einer solchen Tat unausgetragene Konflikte», sagt Joseph Bendel, Gewaltberater und Psychotherapeut aus der Innerschweiz.
Er werde jeden Tag mit der Männer-Vorstellung konfrontiert, alles nach dem Motto «Selbst ist der Mann» machen zu müssen. Damit überforderten sich die allermeisten Männer völlig.
«Würden sich Männer bewusst wahrnehmen, würden sie ihre Ohnmacht, ihre Angst spüren», sagt Bendel weiter. «Aber das wollen sie ja nicht. Sie kehren das unter den Teppich. Und irgendwann explodiert ‹es› dann.»
Und Ruth Greber fügt hinzu: «Männern fehlt es sehr oft an Einfühlungsvermögen. Sie fragen nicht ‹Wie geht es meiner Partnerin, meinen Kindern?› wenn sie so handeln.»
Täterprofile
Das mangelnde Einfühlungsvermögen hat indes nichts mit Bildung zu tun. Darin sind sich die Frauenvertreterinnen und der Männergewalt-Therapeut einig.
«Konflikte mit Gewalt lösen ist ein typisch männliches Verhalten. Jeder Actionheld im Kino und im Fernsehen demonstriert das anschaulich», sagt Ruth Greber.
Laut Joseph Bendel wird immer wieder versucht, Täterprofile zu erstellen – vergeblich. «Es geht durch alle Schichten, alle Altersklassen. Wir haben Täter von 10 bis 70 Jahren – Kinder bis Grossväter.»
Offizialdelikt
Seit 2004 ist häusliche Gewalt ein Offizialdelikt. Die Behörden müssen also ermitteln und handeln.
Agnes Flühmann: «Viele Beschwerdestellen haben seitdem einen grösseren Zulauf. Frauen lassen sich früher beraten.» Weiter habe die Polizei ihre Rolle wechseln müssen: «Vorher musste sie die Täter festnehmen, heute beschützt sie in erster Linie die Opfer. Das ist eine grosse Wende.»
In der Offizialisierung ist aber auch die Möglichkeit enthalten, eine Strafverfolgung wieder einstellen zu lassen. Ruth Greber: «Frauen, die sich in einer Opferberatung befinden, sind jedoch eher bereit, solche Verfahren auch durchzuziehen. Sie empfinden die Offizialisierung oft als Entlastung.»
Anders jene Opfer, die nicht in eine Opferberatung gehen möchten. «Sie entschliessen sich öfter, einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens zu stellen.»
Lösungsmöglichkeiten
Um der Gewaltspirale zu entrinnen, drängen sich für Joseph Bendel Massnahmen auf zwei Ebenen auf: «Da ist einerseits der sich immer mehr verschärfende Druck in der Arbeits- und Finanzwelt. Jugendarbeitslosigkeit ist eine Brutstätte der Gewalt. Andere zerbrechen am Burnout, weil sie zuviel machen.»
Das sei eine ungesunde Aufteilung. Eine durchschnittlichere Verteilung der Anforderungen würde einiges zur Entlastung beitragen.
Die zweite Ebene besteht in der Männerbildung. «Selbstwahrnehmung ist auch für Männer erstrebenswert. Männer müssen lernen, aggressiver zu sein. Der aggressive Mann formuliert aber, was er braucht oder will und nimmt Verhandlungen auf. Er drückt auch aus, wenn er wütend ist oder traurig.»
Agnes Flühmann spricht sich für Täterprogramme aus. Bei einem Offizialdelikt müsse der Täter zur Verantwortung gezogen werden, aber auch an einer Beratung oder Therapie teilnehmen. «Man soll seine schlechten und dunklen Seiten betrachten können. Das wäre ein Lösungsweg für beide Parteien, Männer wie Frauen.»
«Gewalt von Männern ist ein gesellschaftliches Problem», ist Ruth Greber überzeugt. «Männer müssen lernen, über Schwierigkeiten in der Partnerschaft zu sprechen oder Hilfe zu suchen. Häusliche Gewalt muss auch ein Männerthema werden.»
swissinfo, Etienne Strebel
In der Schweiz ist jede fünfte Frau schon einmal Opfer häuslicher Gewalt geworden. Der private Raum ist also viel gefährlicher als der öffentliche.
Gemäss Amnesty International fordert häusliche Gewalt in der Schweiz jährlich rund 40 Todespofer.
2005 haben in der Schweiz insgesamt 1435 Frauen und 1461 Kinder in Frauenhäusern Schutz vor gewalttätigen Männern gesucht.
Gewaltkreislauf:
1. Ohnmachts- und Angstgefühle werden vom Mann «weggeschlagen», er verliert Selbstkontrolle, erlebt «Blackout».
2. Die Tat wird ihm bewusst; er erkennt, was er angerichtet hat.
3: Er möchte die Tat ungeschehen machen, fühlt sich schuldig und gelobt Besserung.
4: Er ist sich zwar seiner Schuld bewusst, überträgt die Verantwortung dafür jedoch auf das Opfer, das sein unkontrolliertes Gewaltverhalten ausgelöst haben soll.
5: Täter und Opfer schweigen über den Vorfall, neue Konflikte werden vermieden, Wut und Enttäuschungen werden verdrängt und aufgestaut.
6: Die verdrängten Konflikte erzeugen Gefühle der Ohnmacht und Ausweglosigkeit. Beim geringsten Anlass wird erneut mit Gewalt reagiert, der Kreislauf beginnt von vorne.
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