Wer nicht arbeitet, bekommt nichts zu essen
Sechs Kubikmeter Felsausbruch gegen 600 Gramm Brot. Das war eine der Grundwahrheiten im Leben der Millionen von Sträflingen im Archipel Gulag.
Mit diesen schrecklichen Gefangenenlagern, die ganz Russland unter der Fuchtel hielten, befasst sich eine Ausstellung in Genf.
«Nichts glauben, nichts fürchten, nichts fragen». Diese drei Gebote prägten sich den Häftlingen bereits bei ihrer Ankunft im Gulag ein.
Der Gulag, ein Universum oder vielmehr eine Aneinanderreihung von schwarzen Löchern, die noch vor 50 Jahren bittere Wirklichkeit waren.
Die einsamen, eiskalten Massengefängnisse und Arbeitslager lieferten unentgeltlich und unbegrenzt Arbeitskräfte, welche der Wirtschaft des Landes mit dem Bau von Dämmen, Fabriken und Kanälen – zum Beispiel dem Kanal zwischen der Wolga und Moskau – in Fronarbeit unter die Arme griffen.
Umerziehungslager, in denen «Volksfeinde» auf den richtigen Weg gebracht oder eliminiert wurden – all dies im Namen einer Utopie, der perfekten Gesellschaft.
Villa des Schreckens
Die drei Gebote prangen auch in grossen kyrillischen Lettern in den Räumlichkeiten eines Herrschaftshauses in Conches, 2 km von Genf entfernt.
Hier veranstaltet das Ethnographie-Museum Genf in Zusammenarbeit mit der russischen Menschenrechts-Gesellschaft «Memorial» die Ausstellung «Goulag: le peuple des zeks».
«Der Gulag nimmt in der Weltgeschichte der menschlichen Grausamkeit einen festen Platz ein», meint dazu der Projektkoordinator Christian Delécraz.
In den gepflegten Räumen wird auf drei Stockwerken eine brutale Geschichte illustriert. Rot dominiert. Über dem Treppenaufgang hängt der sowjetische Stern. Und von den Wänden blicken die zahlreichen Porträts von Stalin, der den Terror der Zwangsarbeit zur Perfektion gebracht hat.
Ethnographie statt Politik
Doch die Ausstellung ist bewusst nicht auf Politik ausgerichtet. «Wir verfolgen einen ethnographischen Ansatz», betont der Historiker Vladimir Doukelski.
«Wir möchten die Umgebung, die Leute und den Lageralltag mit seinen verschiedenen Tätigkeiten zeigen».
Von 1937 bis 1953 haben rund 400 Straflager, die über die ganze Sowjetunion verstreut lagen, im Durchschnitt 2 Millionen Häftlinge pro Jahr «aufgenommen».
Eine riesige Anzahl Menschen, die von der übrigen Gesellschaft derart isoliert lebten, dass laut Doukelski «die Lagerbehörden eine eigene künstliche Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft bilden konnten».
In drei Themenbereiche unterteilt wird dieses Leben anhand von Fotografien (fast nur Propaganda), Alltagsgegenständen und von Kunstwerken, welche die Sträflinge herstellten, veranschaulicht.
Dazu kommen Filmbeiträge und Dokumente über die Verhaftungen, die Lagerarchitektur, die primitive Lagerhierarchie und den täglichen Überlebenskampf von Millionen Menschen.
Männer, Frauen und Kinder. Nackt in Isolationshaft bei 30 Grad Celsius unter Null. Beim Malen von überlebensgrossen Stalinporträts.
Propaganda war die einzige Form von Kultur, die in den Lagern zugelassen war.
Oder: Menschen beim hoffnungslosen Versuch, sich ein kleines Stück jener persönlichen Identität zu bewahren, die nach dem Konzept des Gulag ausradiert werden sollte.
Ein einziger Gedanke: Essen
Im Unterschied zu den nationalsozialistischen Konzentrations-Lagern ging es beim Gulag nicht in erster Linie darum, die Insassen zu eliminieren. Dennoch haben Millionen von Menschen hier ihr Leben verloren.
Sie wurden umgebracht von den Wachen, von Krankheiten, vom Klima oder den unmenschlichen Anstrengungen. Oder vom Hunger. «Die Gedanken der Gefangenen kreisten vor allem um Eines, um das Essen. Davon gab es nie genug», sagt Vladimir Doukelski.
Der einfachste Weg aus dem Lager war der Tod. Ein zweiter Tod.
Denn der erste, der Abschied von der bürgerlichen Gesellschaft, geschah bereits bei der Verhaftung. Ein kleines Vergehen, ein Rückstand auf das Plansoll, angebliche «konterrevolutionäre» Umtriebe, und schon verschwand man im Gulag.
Doukelski dazu: «Einmal unterwegs zum Gulag, galten die Sträflinge nicht mehr als menschliche Wesen.» Ihr trauriges Schicksal wurde zu einem von Millionen Staatsgeheimnissen.
Zahlreiche Sträflingskinder schrieben an Stalin, um nach ihren Eltern zu fragen.
«Es ist schwer, ohne Papa zu leben», steht in einem dieser Briefe. «Herr Präsident, können Sie mir sagen, wo mein Papa ist und wie es ihm geht?»
swissinfo, Marzio Pescia, Conches
Die Ausstellung «Goulag: le peuple des zeks» dauert bis am 2. Januar 2005.
Vorträge, Diskussionen und Theatervorführungen runden die Ausstellung ab.
Der Gulag hat in der russischen Revolution von 1917 seinen Ursprung: Damals begann man, ganze Gesellschaftsschichten zu internieren.
In den 30er-Jahren wurde er zum wichtigsten Werkzeug der politischen Repression innerhalb der UdSSR.
Während des «grossen Terrors» 1937-38 wurden 680’000 Personen erschossen.
Weitere 800’000 wurden in die Gulaglager geschickt, die es mittlerweile in der ganzen Sowjetunion gab.
Der Tod von Stalin 1953 bedeutete der Anfang vom Ende dieser Lager, die als «Archipel Gulag» bezeichnet wurden.
Insgesamt zählte das Volk der Zeks schätzungsweise 15-20 Millionen Personen.
Die Todesrate wird auf 7 bis 25% geschätzt.
Strafgefangene, die verurteilt wurden oder beim Verhör oder einem Flucht-Versuch starben, nicht inbegriffen.
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