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Wie die Neat die Südschweiz verändern wird

Die Neat-Baustelle in Faido. Alptransit.ch

Wie wird sich die Inbetriebnahme der neuen Alpentransversalen (Neat) auf das Tessin als Schweizer Randregion auswirken? swissinfo.ch sprach mit Remigio Ratti, Experte für Verkehrs- und Raumentwicklung, sowie Patrick Lardi, Vizedirektor von Tessin Tourismus.

Eine Stunde und 40 Minuten von Zürich nach Lugano, zwei Stunden und 40 Minuten von Mailand nach Zürich. Von Bellinzona nach Lugano schrumpft die Fahrzeit auf gut 10 Minuten, Locarno und Lugano liegen nur noch 20 Bahn-Minuten auseinander.

Das sind die Perspektiven, die mit der Inbetriebnahme des neuen Basistunnels am Gotthard (Eröffnung 2017) und am Ceneri (2019) verbunden sind. Die Verkürzung der Fahrzeiten mit der Bahn wird die Zukunft der Nord-Süd-Verbindungen genauso verändern wie die innerkantonale Verkehrssituation.

Dazu kommen wichtige Bahnprojekte im Süden des Kantons: In der Grenzregion zwischen den Provinzen Como, Varese und dem Kanton Tessin.

Zwei Dreiecke

«Die wichtigsten Veränderungen lassen sich mit zwei Dreiecken schematisch darstellen: Ein Dreieck zwischen Lugano, Bellinzona und Locarno, und ein zweites Dreieck zwischen Mendrisio, Varese und Como», sagt Remigio Ratti, Professor für Wirtschaft an der Universität Lugano und Experte für Verkehrs- und Raumentwicklung.

Mit der Eröffnung der Bahnstrecke Lugano-Menrisio-Varese-Malpensa würden die Veränderungen schon ab 2013/14 im zweiten Dreieck (Mendrisio-Como-Varese) spürbar werden, glaubt Ratti.

«Das Tessin wird damit in jeder Hinsicht zu einer sehr wichtigen grenzüberschreitenden Region, denn Como und Varese werden durch das Mendrisiotto verbunden. Wenn die Züge in dieser Region alle 15 Minuten verkehren, kann man wirklich von einer Revolution sprechen.»

Trotz dieser Verbesserungen bleibt gemäss Ratti das Problem an einer Schlüsselstelle der Nord-Süd-Achse im Tessin ungelöst: Der Abschnitt zwischen Lugano und Mendrisio. Die Autobahn ist bereits an ihre Kapazitätsgrenze gestossen, und im Bahnverkehr exisistiert das Risiko eines Engpasses.

«Der Bund muss die Verlängerung von Alptransit südlich von Lugano in sein Investitionsprogramm aufnehmen», fordert der Verkehrsexperte.

Unternehmergeist gefragt

Damit das Tessin nicht zu einem reinen Transitkorridor verkommt, braucht es gemäss Ratti einen Unternehmergeist, der die Auswirkungen der neuen Eisenbahnverbindungen frühzeitig erkennen und berücksichtigen kann.

«Im Wallis haben die Behörden schon sechs Jahre vor Inbetriebnahme des neuen Lötschberg-Basistunnels diverse Szenarien ausgearbeitet», so Remigio Ratti.

So wurden in Visp beispielsweise 10‘000 neue Wohnungen gebaut. «Auch wenn die Initiative von privater Seite kam, haben die Behörden diese Entwicklung im Rahmen der Baugenehmigungen gefördert und tatkräftig unterstützt», hält Ratti fest. Im Tessin scheine sich dagegen in der Baubranche in Bezug auf die Inbetriebnahme der Neat nicht viel zu tun.

Immerhin erscheinen am Horizont einige Projekte, die zwar nicht systematisch mit Alptransit verbunden sind, aber doch vielversprechend scheinen. So soll in Locarno-Muralto als Überbauung des Bahnfofs ein Kongresszentrum entstehen, und in Lugano könnte in direkter Bahnhofsnähe der neue Sitz der Fachhochschule der italienischen Schweiz zu stehen kommen.

Auch für Chiasso und Mendrisio eröffnen sich neue Perspektiven. Die Grenzstadt Chiasso könnte ihre Agglomerationsgebiete ordnen und Altlasten sanieren. Mendrisio könnte ein neues Wohngebiet zwischen Bahnhof und Autobahn planen.

Herausforderung für den Tourismus

Die Neue Alpentransversale wird auch für den künftigen Tourismus im Südkanton von entscheidener Bedeutung sein. Dies zeigen die Erfahrungen des Kanton Wallis mit der Eröffnung des neuen Lötschberg-Tunnels. Das Wallis investierte 1,6 Mio. Franken in eine Werbekampagne eigens für die Region Zürich.

«Der neue Gotthard-Basistunnel wird für das Tessin eine Revolution auslösen, ähnlich wie seinerzeit der Scheiteltunnel der Gotthardbahn oder der Gotthard-Strassentunnel. Diese neuen Verkehrswege haben dazu geführt, dass das Tessin zu einem Gastkanton wurde, was angesichts einer Vorgeschichte mit Emigraton und Armut nicht immer einfach war», sagt Patrick Lardi, Vizedirektor von Tessin Tourismus.

Dank der Neat werden die deutsche Schweiz und Italien noch näher zusammenrücken. Warum sollte man im Tessin einen Zwischenhalt einschalten? «Dank des qualitativ hohen Angebots, der Sicherheit, einem mediterranen Klima und natürlich der Gastfreundschaft wird das Tessin eine attraktive Ferienregion bleiben und sogar noch interessanter werden», ist Lardi überzeugt.

Er erwähnt in diesem Zusammenhang neue Highlights. Etwa den im Bau befindlichen Acquapark in Rivera, das geplante Architekturmuseum oder den neuen Nationalpark im Grenzgebiet zu Graubünden. Auch die alte Gotthard-Linie könnte als Touristenbahn zu neuer Attraktivität führen. Zudem dürfte sich das Tessin als Kongress-Destination stärker profilieren.

Pendler als Ausnahme

Die verkürzten Fahrzeiten könnten aber auch zu neuen Pendlerströmen führen. Im Wallis haben sich unerwartete Phänomene eingestellt. «Einige deutschsprachige Studenten haben sich entschlossen, in Thun zu wohnen, um den Besuch einer zweisprachigen Schule zu vermeiden», weiss Ratti.

Bisher gibt es nur sehr wenige Personen, die zwischen dem Tessin und der deutschen Schweiz pendeln. Die NZZ am Sonntag hat vor kurzem umgekehrt den Fall einer jungen italienischen Juristin beschrieben, welche täglich mehr als fünf Stunden im Zug unterwegs ist, um im Gericht von Lugano zu arbeiten.

Es scheint aber eher unwahrscheinlich, dass der neue Gotthard-Basistunnel zu einer neuen Art des Berufspendlers führt. «Im Unterscheid zum Wallis, wo die Fahrzeit nach Bern weniger als eine Stunde beträgt, müsste ein Pendler zwischen Lugano und Zürich immer noch mehr als drei Stunden täglich im Zug verbringen. In Japan wird dies als normal betrachtet, bei uns nicht», kommentiert Ratti.

Gesamtlänge: 57 Kilometer ,Weltrekord (vor Seikan, Japan, mit 54 km, und dem Eurotunnel zwischen Frankreich und England mit 53 km)

Bauabschnitte: 5 (Erstfeld, Amsteg, Sedrun, Faido, Bodio)

Länge Tunnel, Schächte, Stollen: 151, 84 Kilometer

Geplanter Hauptdurchschlag in der Oströhre zwischen Faido und Sedrun: 15.Oktober 2010

Hauptdurchschlag Weströhre: Frühjahr 2011

Aushubmaterial: 24 Millionen Tonnen – entspricht dem fünffachen Volumen der Cheops-
Pyramide in Ägypten .

Geplante Inbetriebnahme: Dezember 2017

Mischbetrieb Güter/Personenverkehr: 50-80 Personenzüge/Tag, 220-260 Güterzüge/Tag

Höchstgeschwindigkeit: 250 km/h (Personenzüge), 160 km/h (Güterzüge)

Nutzungsdauer: 100 Jahre

Bauherrin: AlpTransit Gotthard AG (gegründet am 12. Mai 1998), 100-prozentige SBB-Tochtergesellschaft mit Sitz in Luzern

Anzahl Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der AlpTransit Gotthard AG: 140

Beschäftigte auf Baustellen: zirka 2200 (Gotthard- + Ceneribasistunnel)

Mutmassliche Endkosten (ganze Gotthard-Achse): 12,2 Milliarden CHF (Preisstand 1998, ohne MWSt, Zinsen, Teuerung).

«Gottardo 2020 – im Herzen der Alpen» ist der Titel einer Machbarkeitsstudie für eine nationale Alpenausstellung rund um das Gotthard-Massiv.

Die vier Anrainer-Kantone Wallis, Uri, Tessin und Graubünden sind beteiligt.

Die Idee zu Gottardo 2020 stammt von Marco Solari, dem einstigen Delegierten des Bundesrat fürs die 700-Jahr-Feier 1991 (heute Präsident des Filmfestivals Locarno und Präsident von Ticino Turismo).

Seiner Ansicht nach muss die Eröffnung des neuen Gotthard-Basistunnels (voraussichtlich 2017) mit einer Art Landesausstellung begangen werden.

Gemäss Solari handelt es sich um eine einmalige Chance, um die Kohäsion des Landes sowie Solidarität zwischen den Generationen und Völkern zu begehen. Kurzum: Der historische und symbolische Gehalt des Gotthards im Laufe des Jahrhunderts soll heraus gearbeitet werden.

(Übertragung aus dem Italienischen und Bearbeitung: Gerhard Lob)

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