«Wie ein Radwechsel am fahrenden Auto»
Kaum in Kraft, will die Schweizer Regierung das Asyl- und Ausländergesetz erneut verschärfen. Eine Allianz von über 40 Organisationen zerzaust den "gesetzgeberischen Hyperaktivismus" und fordert stattdessen einen Marschhalt.
Die letzten Verschärfungen von Schweizer Asyl- und Ausländerrecht datieren vom 1. Januar 2008. Noch ohne die ersten Erfahrungen mit den höheren Hürden in beiden Gesetzen abzuwarten, hat der Bundesrat bereits die nächste Runde eingeläutet.
«Das ist wie ein Radwechsel am fahrenden Auto», illustriert Balthasar Glättli von den Grünen die Situation. Die breite Koalition erteilt beiden Revisionsvorhaben in der Vernehmlassung «aus grund- und menschenrechtlicher Optik» eine harsche Absage.
Ausschluss…
Im Asylrecht würden Dienstverweigerer und Deserteure künftig nicht mehr als Flüchtlinge gelten. Dies um «die Attraktivität der Schweiz als Asylland zu senken», wie die Regierung begründete.
Dienstverweigerer und Deserteure hätten in der Schweiz selbst dann keine Aussichten auf Asyl mehr, wenn sie in ihrer Heimat ernsthaft bedroht würden, sagte Yves Brutsch von der Organisation Solidarité sans frontières.
… und Annullation
Weil der kategorische Ausschluss der Deserteure im selben Gesetzesartikel gleich wieder relativiert werde, könne niemand sagen, wie die künftige Gesetzesauslegung aussehen werde.
Brutsch macht einen grundsätzlichen Vorbehalt. Die geplante Ausschlussklausel stehe im Widerspruch zum Grundrecht für Flüchtlinge, eben genau dann um Asyl in der Schweiz nachsuchen zu können, wenn sie in ihrem Land an Leib und Leben bedroht seien.
«Missbrauchs-Fixierung»
«Die gesetzgeberische Arbeit ist so schlecht gemacht, dass sie Unklarheit oder noch härterer Praxis Tür und Tor öffnet», sagt der Sprecher der Sozialzentren der protestantischen Kirche in Genf.
Sämtliche bisherigen Verschärfungen seien stets mit Eindämmung der Zahl der Asylgesuche sowie dem Kampf gegen Missbrauch begründet worden. So auch diesmal. «Das neue Gesetz stellt aber selber einen Missbrauch des Aslyrechts dar, und weil wir gegen Missbrauch sind, lehnen wir es ab», folgert Brutsch.
Laut Balthasar Glättli markiert die angestrebte Revision einen Kurswechsel. «Bisher wurde das Aslyrecht stets verschärft, indem das Prozedere für die Antragsteller erschwert wurde. Mit der jetzt vorliegenden Neuformulierung werden Menschen, die nach heutigem Recht schutzwürdig sind, aus dieser Schutzwürdigkeit wegdefiniert», so der Zürcher Politiker.
Bückling vor Populismus
Mit dem gleichzeitig vorgelegten Entwurf für eine Verschärfung im Ausländerrecht habe der Bundesrat mangelndes Rückgrat bewiesen, sagte Marc Spescha von den Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS).
«Die Schweizerische Volkspartei hat mit der Ausschaffungs-Initiative gehüstelt und die Regierung verbeugt sich mit einer symbolischen Gesetzgebung vor dem Populismus», sagt Spescha gegenüber swissinfo.
Die Regierung, welche die angepeilte Revision als indirekten Gegenvorschlag zum Begehren der Rechtspartei versteht, verlangt die automatische Ausschaffung von Verurteilten mit Gefängnisstrafen ab zwei Jahren. Ob bedingt oder unbedingt verhängt. «Damit wird die Prüfung der Verhältnismässigkeit als Grundelement der Schweizerischen Rechtssprechung ausgeschaltet», kritisiert Jurist Spescha.
Kritiker einbeziehen
Wie im verschärften Asylgesetz folge auch im strengeren Ausländerrecht die Relativierung gleich auf dem Fuss. «Das ist unseriöse Gesetzgebung. Selbst beim Bundesgericht in Lausanne schüttelt man darüber den Kopf», sagt Spescha.
«Übung abbrechen, Fakten sammeln, Kritiker anhören, dann kommen keine solchen Rohrkrepierer heraus», fordert er im Namen der Organisationen.
swissinfo, Renat Künzi
Wichtigste geplante Verschärfungen:
Deserteure und Dienstverweigerer verlieren Flüchtlingsstatus.
Betätigen sich Flüchtlinge politisch, können sie sich strafbar machen.
Asylgesuche können nur noch in der Schweiz gestellt werden.
Im Falle einer Ausweisung muss der Betroffene beweisen, dass diese Massnahme für ihn unzumutbar ist, damit er im Land bleiben kann.
Wichtigste geplante Verschärfungen:
Die Niederlassungsbewilligung wird von einer «erfolgreichen Integration» abhängig gemacht.
Generelle Voraussetzung dazu sind Kenntnisse einer Landessprache.
Recht auf Familiennachzug von Angehörigen von Schweizer Ehegatten und –gattinnen erlischt schon bei geringen Verfehlungen.
Beziehen niedergelassene Ausländer Sozialhilfe, kann die Aufenthaltsbewilligung widerrufen werden. Auch wenn die Betroffenen schon 15 Jahre in der Schweiz gelebt haben.
Gegen die geplanten Verschärfungen von Asyl- und Ausländerrecht treten 45 Organisationen an (Parteien, Gewerkschaften, friedenspolitischen, Menschenrechts-, Asyl- und Migrations-Organisationen).
Dazu zählen unter anderem die Grünen, der Schweizerische Gewerkschaftsbund, die Gesellschaft für bedrohte Völker, der Schweizerische Friedensrat, Solidarité sans frontières und die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz.
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