Wie sich die liberale Schweiz gegen die Suizidkapsel Sarco wehrt
Die Suizidkapsel "Sarco" soll in der Schweiz zu ihrem weltweit ersten Einsatz kommen. So will es ihr Erfinder. Die Kantonsbehörden allerdings leisten Widerstand. Und auch bei den etablierten Sterbehilfeorganisationen kommt der "Tesla der Sterbehilfe" schlecht an.
Die mediale Aufmerksamkeit ist gewaltig: Die Schweizer Medien haben fast den ganzen Monat Juli über die Sarco-Suizidkapsel berichtet, und auch viele ausländische Medien griffen die Geschichte auf.
Nachdem der Kanton Schaffhausen bereits mit strafrechtlichen Konsequenzen gedroht hatte, hat nun auch der Kanton Wallis den Einsatz verboten.
Am 28. Juli gaben Exit International und The Last Resort in einer gemeinsamen Erklärung bekannt, dass der für den 17. Juli geplante Tod einer Amerikanerin mit der Sarco-Kapsel endgültig verschoben wurde.
Diese Frau sollte ursprünglich die erste Person sein, die das Gerät benutzt. Der Aufschub erfolgte aufgrund «zunehmender Besorgnis über ihre sich verschlechternde psychische Gesundheit, insbesondere angesichts der jüngsten viralen Medienberichte über Sarco in der Schweiz», so die Erklärung.
Zwei Tage später gaben die beiden Organisationen bekannt, dass die Frau in einer Klinik in der Schweiz durch einen Suizid gestorben sei.
Die Organisationen erklärten, die Frau sei verschwunden, nachdem ihr der Zugang zur Sarco verweigert worden war, und dass sie sich an Pegasos, eine Schweizer Sterbehilfeorganisation, gewandt habe.
Sarco, das ist der Name einer 3D-gedruckten Kapsel, die aussieht wie aus einem Science-Fiction-Roman. Sie ermöglicht es einer Person per Knopfdruck innerhalb weniger Minuten zu sterben. Friedlich oder gar leicht euphorisiert, so behauptet es der Erfinder.
Der «Tesla der Sterbehilfe», wie die Medien die Kapsel genannt haben, wurde bereits vor fünf Jahren der Welt vorgestellt. Doch eingesetzt wurde sie bisher noch nie.
Eine Pressekonferenz und viele Fragen
Das soll sich nun ändern. Inmitten der kontroversen Berichterstattung hielten die Sarco-Initiant:innen kürzlich eine Pressekonferenz in Zürich ab. Um, wie sie sagten, «die kursierenden Fehlinformationen» zu korrigieren.
Dabei gaben sie auch die Gründung einer neuen Trägerschaft mit Schweizer Sitz bekannt: «The Last Resort». Die Organisation soll sich um den Einsatz der Kapsel kümmern.
Allzu viel gab die neue Organisation am Pressetermin nicht preis. Sie bestätigte zwar, dass sie mit mehreren Kantonen Kontakt aufgenommen habe, gab aber keine konkreten Namen bekannt. Die Entscheidung, wo Sarco eingesetzt werde, sei noch nicht gefallen.
In der föderalistischen Schweiz haben die Kantone weitreichende Zuständigkeiten, dazu gehört auch der Gesundheitsbereich. Ob dieser für die Kapsel zuständig ist, ist allerdings rechtlich nicht geklärt.
Auch den Namen der ersten Person, die mit der Kapsel aus dem Leben scheiden will, gab Fiona Stewart, Gründungsmitglied der Organisation nicht preis. «Wir wollen nicht, dass der Wunsch einer Person nach einem friedlichen Ableben in der Schweiz zu einem Medienzirkus wird. Das wäre höchst unethisch.»
Zum Zeitpunkt des Einsatzes sagte Stewart, dass es «dieses Jahr» sein werde. Ihr Co-Präsident Florian Willet ergänzte: «Es ist absolut möglich, dass innerhalb von ein paar Wochen oder Monaten jemand das Gerät tatsächlich benutzen wird.»
Der Erfinder agiert aus der zweiten Reihe
Erfunden wurde Sarco vom australischen Arzt und Euthanasie-Befürworter Philip Nitschke sowie dem niederländischen Ingenieur Alex Bannink.
Nitschke hatte 1997 in seinem Heimatland für freiwillige Sterbehilfe die Organisation «Exit International» gegründet ‒ die in keinerlei Verbindung zur Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit steht.
Fiona Stewart ist seine Lebenspartnerin und ebenfalls an den Aktivitäten von Exit International beteiligt.
Sarco verursacht den Tod durch eine Stickstoffhypoxie. Der:die Benutzer:in drückt nach Beantwortung einiger Fragen in der Kapsel einen Knopf, woraufhin eine grosse Menge Stickstoff freigesetzt wird, die den Sauerstoffgehalt in weniger als 30 Sekunden von 21% auf 0.05% absinken lässt.
Laut Nitschke verliert die Person nach zwei Atemzügen das Bewusstsein und stirbt ohne Leiden in etwa fünf Minuten.
Der Sauerstoffgehalt in der Kapsel und die Herzfrequenz der Person könnten aus der Ferne überwacht werden, sagte er vor den Medien in Zürich.
Auffällig war, dass Nitschke, dessen oft kontroverse Aussagen in der Vergangenheit zu viel Publizität geführt haben, erst zum Schluss in Erscheinung trat.
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Ein fast kostenloser Tod
Gestartet hatte er sein Sarco-Projekt 2012. Seither soll es umgerechnet über 600’000 Franken verschlungen haben.
Der 3D-Druck einer Kapsel soll rund 15’000 Franken kosten. Weil man die Kapsel allen, unabhängig vom Wohlstand, zugänglich machen wolle, sei die Nutzung an sich kostenlos, sagte Stewart. Die Nutzer:innen müssen jedoch für den Stickstoff aufkommen, der etwa 18 Franken kostet.
Die technische Funktionstüchtigkeit der Kapsel sei mehrfach getestet worden, so im vergangenen Jahr in Rotterdam in den Niederlanden.
Menschen über 50 Jahre, die über ein gesundes Urteilsvermögen verfügen, sollen die Sarco-Kapsel nutzen können, so die Organisation.
Aber auch jüngeren Menschen mit unheilbaren Krankheiten stehe eine Nutzung offen. Anders als bei Schweizer Sterbehilfeorganisationen sei keine kostenpflichtige Mitgliedschaft erforderlich.
Die vermeintlich liberale Schweiz
Dass sich der australische Suizidbefürworter für seine Kapsel die Schweiz ausgesucht hat, liegt an der vergleichsweise liberalen Rechtslage.
Laut dem schweizerischen Strafgesetz ist es nicht strafbar, einem anderen Menschen beim Sterben zu helfen, solange kein selbstsüchtiges Motiv vorliegt.
Die FMH, der Dachverband der schweizerischen Ärztegesellschaften, hat zudem einen Ethikkodex zur Suizidbeihilfe erarbeitet. Dieser besagt, dass gesunden Menschen nicht geholfen werden soll und dass ein:e Ärztin zwei Gespräche führen müsse. Der Kodex ist rechtlich aber nicht bindend.
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Co-Präsident Willet sagte an der Pressekonferenz: «Die Schweiz ist der beste Ort für den Einsatz von Sarco, weil das Land ein so liberales Rechtssystem hat.» Seine Organisation ist zuversichtlich, dass die Kapsel in der Schweiz legal eingesetzt werden kann.
Denn sie erfülle die drei Voraussetzungen für legale Sterbehilfe: Die Benutzer:innen drücken den Knopf selbst, sie müssen ein ungetrübtes Urteilsvermögen haben, und die Organisation, die Sarco anbietet, hat keine eigennützigen Motive.
Stewart sagte: «Wir haben in den letzten zwei Jahren umfangreiche Rechtsberatung von verschiedenen Experten erhalten. Nach unserem Verständnis gibt es keine rechtlichen Hindernisse für die Verwendung von Sarco.»
Eine Grauzone
Gegen eine Verwendung im Wallis hatte der dortige Kantonsarzt interveniert. Er verwies auf das Heilmittelinstitut Swissmedic, von dem keine Zulassung für die Kapsel vorliege.
Swissmedic allerdings sieht sich nicht in der Verantwortung, weil sie Sarco nicht als Medizinprodukt einstuft.
«Wir sind zum Schluss gekommen, dass die Zweckbestimmung einer Suizidkapsel keinem im Gesetz gennannten spezifischen medizinischen Zweck entspricht. Das Herbeiführen des Todes ist keine Behandlung oder Linderung von Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen,» sagt Lukas Jaggi, Mediensprecher von Swissmedic, auf Anfrage von SWI swissinfo.ch.
Im Kanton Schaffhausen hatte zuvor die Staatsanwaltschaft mit strafrechtlichen Konsequenzen gedroht und unter anderem damit argumentiert, es gebe zur Kapsel ungenügende Informationen.
Stewart sagte an der Medienkonferenz: «Wenn es unterschiedliche Rechtsauffassungen gibt, werden am Ende die Gerichte entscheiden.»
Sterbehilfeorganisationen sind besorgt
Die etablierten Schweizer Sterbehilfeorganisationen lehnen die Kapsel allesamt ab. Das liegt insbesondere daran, dass «The Last Resort» Ärzt:innen im Prozess der Sterbehilfe so weit wie möglich aus dem Spiel nehmen will.
Für die Nutzung von Sarco benötigt man ein psychiatrisches Gutachten, das die Urteilsfähigkeit bestätigt. Ansonsten gibt es keinen medizinischen Einfluss auf den Prozess. Stickstoff ist nicht verschreibungspflichtig und frei verkäuflich in der Schweiz.
Nach Schweizer Recht ist die Beihilfe zum Suizid legal, wenn die Person über ein gesundes Urteilsvermögen verfügt, einen anhaltenden Sterbewunsch hat und den Suizid selbstständig vornimmt. Die Sterbehilfeorganisationen in der Schweiz setzen jedoch eine der dieser zusätzlichen Bedingungen voraus: Die Person
– leidet unter unkontrollierbaren und unerträglichen Schmerzen.
– leidet an einer unheilbaren Krankheit.
– hat eine unerträgliche Behinderung.
Das Schweizer Modell der Sterbehilfe, das seit Anfang der 1980er-Jahre praktiziert wird, erfordert hingegen die Beteiligung eines Arztes respektive einer Ärztin. Und so ist das auch in anderen Ländern, wo die Sterbehilfe erlaubt ist, etwa in den Niederlanden.
Das liegt einerseits daran, dass in der Schweiz Natrium-Pentobarbitalals tödliches Medikament verwendet wird. Dieses muss von ärztlicher Seite verschrieben werden, weshalb die Schweizer Suizidhilfe grundsätzlich Bedingungen wie das «Leiden an einer unheilbaren Krankheit» voraussetzt.
Der assistierte Suizid erfolgt nach einem Gespräch mit einem Arzt respektive einer Ärztin, wenn dieser respektiv diese zustimmt.
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Breiter Konsens: Warum Suizidbeihilfe in der Schweiz normal ist
Die Suizidhilfe-Organisation Dignitas erklärte gegenüber SWI, dass die professionelle ärztliche Suizidhilfe mit ausgebildeten Mitarbeitenden praktiziert und jede Freitodbegleitung von den Behörden (Staatsanwaltschaft, Polizei und Amtsarzt) geprüft werde.
Und weiter: «Angesichts dieser rechtlich abgesicherten, etablierten und bewährten Praxis können wir uns nicht vorstellen, dass eine technologisierte Kapsel für ein selbstbestimmtes Lebensende in der Schweiz auf breite Akzeptanz und/oder Interesse stossen wird.»
Erika Preisig, Ärztin und Präsidentin der Basler Organisation Lifecircle, sagt, die ärztliche Intervention diene auch als «Gatekeeper», um unnötige Suizide zu verhindern.
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«Ich will niemanden umbringen»
«Ich befürchte, dass Menschen ohne genügend Informationen über Alternativen zum Suizid und ohne Wohlüberlegen des Todeswunsches gewissenlos in den Tod begleitet werden,» sagt sie gegenüber SWI.
Die Schweizer Organisationen bezeichnen Sarco auch als unmenschlich, da die Person «allein» in der geschlossenen Kapsel sterben müsse, getrennt von ihren Angehörigen.
Exit: «Gegen unsere Grundsätze»
Exit, die älteste und grösste Sterbehilfeorganisation der Schweiz, erklärte in einer Stellungnahme, dass ihre Mitglieder und ihre Angehörigen es schätzen würden, dass sie “beim Sterben nicht voneinander getrennt sind, sondern sich während der letzten Minuten berühren und halten können».
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Schweizer Sterbehilfe-Organisationen vermelden Mitgliederrekorde
Die Suizidkapsel, die diesen letzten Kontakt verunmögliche, stehe im Widerspruch zu den Grundsätzen von Exit.
Einige befürchten auch, dass Sarco das liberale Schweizer Sterbehilfesystem gefährden oder zumindest Regulationen auslösen könnte.
Preisig sagt: «Ich fange an zu denken, dass alle Freitodbegleitungs-Organisationen eine Betriebsgenehmigung für die Schweiz haben sollten.» Damit, so Preisig, wäre ein Fall wie der aktuelle mit der Sarco-Kapsel nicht mehr möglich.
Der südliche US-Staat Alabama hat Anfang des Jahres einen zum Tode verurteilten Mann mit Stickstoff hingerichtet und ist damit der erste Staat der USA, der dieses Gas bei einer Hinrichtung verwendet.
US-Staaten haben seit mehreren Jahren Schwierigkeiten, tödliche Medikamente zur Exekution zu beschaffen, da Pharmaunternehmen den Verkauf aus ethischen Gründen eingestellt haben.
Obwohl die Behörde in Alabama behauptete, es handele sich um eine schmerzfreie und humane Methode, hatten die Vereinten Nationen gewarnt, die nicht getestete Stickstoffhypoxie könne der Folter gleichkommen. Einige Zeug:innen berichteten den lokalen Medien, sie hätten gesehen, wie der Gefangene mit dem Tod rang.
Philip Nitschke war in Alabama als Sachverständiger für die Verteidigung des Häftlings aufgetreten. Nitschke wies vor Gericht darauf hin, dass Stickstoffhypoxie nur dann einen friedlichen Tod herbeiführen könne, wenn die Person bereit sei, zu sterben, und dass die bei der Hinrichtung verwendete Gesichtsmaske das Risiko berge undicht zu sein und daher ungeeignet sei.
Nitschke betonte an der Pressekonferenz in Zürich: «Es gibt einen grossen Unterschied zwischen denen, die nicht sterben wollen, und denen, die es wollen. Sarco funktioniere perfekt, wenn der Benutzer sterben will.» Er sagte auch, dass Sarco kein konzentriertes Gas verwendet, wie es in Alabama eingesetzt wurde.
Editiert von Marc Leutenegger
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