Wieder unerwünschtes Neugeborenes im Babyfenster
Im Spital Einsiedeln ist erneut ein Neugeborenes in die Babyklappe gelegt worden. Das Findelkind ist das sechste in der fast zehnjährigen Geschichte des Babyfensters, das in der Schweiz einmalig ist.
Während am Sonntag der Weihnachtsmarkt im Zentralschweizer Klosterdorf in vollem Gang war, platzierte jemand ein gesundes, neugeborenes Mädchen in die Babyklappe des Regionalspitals Einsiedeln.
Das Baby wurde am helllichten Tag, gemäss Angaben des Spitals um 11:45, in die Klappe gelegt.
Das Mädchen erhielt umgehend einen rechtlichen Beistand sowie einen Namen. Bevor es zu Pflegeeltern kommt, wird das Neugeborene einige Tage im Spital bleiben.
Das Babyfenster ist ein Gemeinschaftsprojekt des Regionalspitals Einsiedeln und der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK), einer Organisation, die sich gegen die Abtreibung stark macht.
Das Fenster wurde am 9. Mai 2001 eingeweiht, als Dienst an Frauen, die ihr Baby nicht behalten können oder wollen – und dieses anonym weggeben möchten.
«Das Babyfenster soll eine Hilfe sein gegen Vernachlässigung oder Tötung von Kindern», sagte SHMK-Sprecher Dominik Müggler gegenüber swissinfo.ch. «Wenn eine Frau ihr Neugeborenes ins Fenster legt, macht sie sich nicht strafbar. Wenn sie ihr Baby verlässt, drohen ihr bis fünf Jahre Gefängnis.»
Während der ersten eineinhalb Jahren blieb die Babyklappe verwaist; dann wurde im September 2002 das erste Baby – ein neugeborener Knabe –ins Fenster gelegt. Das Kind von letztem Sonntag war bereits das zweite im Jahr 2010.
Das Fenster
Das Fenster ist in die äussere Wand des Spitals eingebaut. Wenn man es öffnet, kann man das Baby in eine kleine Wiege legen. Macht die Mutter das Fenster zu, wird dieses automatisch verschlossen, damit niemand anderes das Baby herausnehmen kann.
Nach drei Minuten geht im Inneren des Spitals ein stiller Alarm los, der die Belegschaft informiert, dass sich ein Baby im Babyfenster befindet. Damit hat die Mutter genügend Zeit, sich vom Areal des Spitals zu entfernen, ohne gesehen zu werden.
Mutter oder Vater haben jedoch das Recht, ihr Kind vor einer Adoption wieder zurückzuverlangen. Ein Prozess, der mindestens ein Jahr dauert. Ein «Brief an die Mutter», der in zehn Sprachen abgefasst ist und beim Babyfenster hinterlegt ist, soll der Mutter die Angst zu diesem Schritt nehmen, sie aber auch ermutigen, mit dem Spital oder der Mutterhilfe Kontakt aufzunehmen.
«Leider kommen die Mütter nicht bereits vor der Geburt zu uns, so dass wir sie unterstützen könnten», bedauert Müggler. «Das wäre besser, doch wir müssen ihren Entscheid respektieren.»
Ob eines der fünf bisher ins Babyfenster gelegten Kleinkinder heute wieder mit seinen biologischen Eltern lebt, konnten weder das Spital noch die Organisation sagen.
Rechtliche Fragen
Zum Zeitpunkt der Eröffnung war das Babyfenster sehr kontrovers aufgenommen worden. Gegner argumentierten, es verstosse gegen die UNO-Konvention für die Rechte des Kindes, die einem Kind das Recht einräumen, seine Identität zu kennen.
Andere sorgten sich um die Gesundheit der Mütter, die ihre Kinder offensichtlich ohne medizinische Hilfe zur Welt gebracht hatten.
Im Herbst 2009 stimmte der Nationalrat gegen zwei Motionen, die anonyme und so genannte «diskrete» Geburten in der Schweiz ermöglichen wollten. Die erste der beiden Vorstösse hätte ein völlig anonymes Gebären ermöglicht.
Die zweite wollte den Frauen die Möglichkeit geben, ihre Identität und Angaben zur Gesundheit in einem versiegelten Umschlag zu hinterlassen, damit die Behörden diese dem Kind bei Nachfrage übergeben könnten.
«Die Annahme dieser Motionen würde die Notlage der Mutter über das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Identität stellen», sagte die freisinnige Nationalrätin Christa Markwalder als Sprecherin für die vorberatende Kommission im Parlament.
Und sie ergänzte: «Der Zweck dieser Vorstösse – den Schutz des Lebens zu verbessern – kann nicht auf diese Art erreicht werden. Das ist die Meinung einer Kommissionsmehrheit.»
Ursprünglich wollte die SHMK an vier weiteren Orten Babyfenster eröffnen. Sie legte ihre Pläne jedoch auf Eis, weil sie die Debatten im Parlament abwarten wollte.
«Der Weg ist nun frei für ein weiteres Babyfenster», sagte Müggler. «Einzelheiten können wir zu Zeit aber noch keine bekanntgeben.»
Andere Länder
Gemäss französischem Recht hat die Frau das Recht, in einem Spital ein Kind zu gebären und es darauf anonym zur Adoption freizugeben.
In Deutschland ist es nicht legal, aber viele Kliniken erlauben den Frauen, zu gebären, ohne ihren Namen preiszugeben. Deutschland hat rund 80 Babyfenster, alleine deren fünf in Berlin.
In Italien existieren zehn Babyklappen, in Ungarn 12, in Polen deren 16. In Pakistan hingegen gibt es rund 300. In den USA gibt es so genannte «safe-haven»-Gesetze (sicherer Hafen), die es Eltern erlauben, neugeborene Babys anonym wegzugeben.
Die SHMK bekommt jedes Jahr etwa 1400-1500 Anfragen für Hilfe, sei das per Telefon oder E-Mail. «Darunter sind viele Frauen, die mit jemandem über eine ungeplante Schwangerschaft reden wollen. Finanzielle und rechtliche Fragen spielen eine sekundäre Rolle», so Müggler.
Neben Beratungen setzt sich die SHMK für eine kinderfreundlichere Mentalität ein.
Auf die Frage, wie die SHMK reagiert, wenn ein Kind in Einsiedeln deponiert wird, erwiderte Müggler: «Wir sind jedes Mal froh, wenn ein Baby ins Fenster gelegt wird, denn die Babyklappe ist ganz klar eine wertvolle Hilfe für Frauen, die sich in einer äusserst verzweifelten Lage befinden.»
9. Mai 2001: Das Regionalspital Einsiedeln und die Stiftung Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) rufen am Muttertag das Babyfenster ins Leben.
5. September, 2002: Als erstes Kind wird ein neugeborener Knabe ins Fenster gelegt.
11. April, 2005: Neugeborener Knabe
1. August, 2005: Neugeborenes Mädchen
22. Januar, 2010: Neugeborenes Mädchen
5. Dezember, 2010: Neugeborenes Mädchen
Liebe Mutter
Sie haben Ihr Baby ins Babyfenster Einsiedeln gelegt. Sie geben ihm damit eine neue Chance, im Leben glücklich zu werden. Dafür danken wir Ihnen herzlich!
Wir haben Verständnis für die schwere Entscheidung, die Sie getroffen haben, und dürfen Ihnen bestätigen, dass Sie strafrechtlich nicht belangt werden.
Sie haben das Recht, Ihr Baby mindestens bis zu einem allfälligen Adoptions-Vollzug zurückzufordern. Eine Adoption kann frühestens nach einem Jahr erfolgen.
Die Stiftung SHMK (Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind;
Gratisnummer 0800 811 100; hotline@stiftung-shmk.ch) stellt Ihnen die nötige finanzielle und soziale Hilfe unentgeltlich zur Verfügung, um Ihnen eine gute Zukunft mit Ihrem Baby zu ermöglichen.
Lassen Sie sich beraten, auch anonym, wenn sie wollen. Wir sind immer für Sie da! Melden Sie sich bitte beim Regionalspital Einsiedeln, bei der Stiftung SHMK oder bei der Vormundschafts-Behörde Einsiedeln. Ihre Meldung wird streng vertraulich behandelt, und Sie können anonym bleiben.
Es dürfte für Ihr Kind von Vorteil sein, wenn Sie ihm auf einem Zettel einen Namen mitgeben und ihm allenfalls in einem verschlossenen Umschlag Informationen über seine Herkunft hinterlassen.
Einen solchen Brief können Sie uns auch nachträglich zukommen lassen. Wenn Sie es wünschen, wird er bei der Vormundschafts-Behörde Einsiedeln aufbewahrt und dem Kind spätestens nach Erreichen seiner Volljährigkeit übergeben.
Wir empfehlen Ihnen zudem, mit Rücksicht auf Ihre eigene Gesundheit, möglichst bald eine gynäkologische Untersuchung vornehmen zu lassen. Die Ärzte unterstehen dem Arztgeheimnis.
Viel Kraft und Mut wünschen Ihnen, Regionalspital Einsiedeln und Stiftung SHMK.
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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