Wilhelm Tell – Freiheitsheld oder Killer?
Der legendäre Schweizer Armbrustschütze Wilhelm Tell wird oft als heroischer Freiheitskämpfer dargestellt. Aber war die Tötung des Habsburger Landvogtes nicht die Tat eines Mörders? Eine Ausstellung in Neuenburg versucht Antworten zu geben.
Wilhelm Tell, die mythische Figur der Schweizer Geschichte, gilt als Held, der im Kampf für die Freiheit Gessler tötete. Aber halt, war diese Tat am Vogt der Habsburger nicht Mord? Um diese provokative Frage kreist eine Ausstellung in Neuenburg.
Wilhelm Tell, der einfache Bauer aus dem Kanton Uri, ist im Laufe der Jahrhunderte viele Male erfunden worden: als Legende, als Held der Geschichte und Stifter der Freiheit der Schweiz. Aber als Mann, der einen politischen Mord beging?
«Die Figur Tell verfügt über einen extrem formbaren Charakter mit vielen Gesichtern», sagt Jean-Daniel Morerod, der die Ausstellung «Tell, l’assassin….» («Tell, der Mörder….») kuratierte. Die Schau unter dem provokativen Titel ist seit 17. September im Museum für Kunst und Geschichte Neuenburg zu sehen und dauert noch bis am 8. Januar 2012.
Die Besucher werden von Tell höchstpersönlich empfangen. Die überlebensgrosse Figur ist in gelb-blau-rot gestreifter Söldneruniform gekleidet und macht sich bereit, einen Pfeil in seine Armbrust einzuspannen.
Was den wenigsten bekannt sein dürfte: Der Tell aus Holz stand jahrzehntelang am Eingang des Zeughauses in Bern, wo er die Besucher beeindrucken sollte.
Furchteinflössend
«Die Behörden waren stolz auf die Bedrohung, die von Tell Ende des 16. Jahrhunderts ausging», sagt Morerod, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Neuenburg, gegenüber swissinfo.ch.
Eine andere Darstellung, ein Gemälde aus der Zeit der Romantik, zeigt einen jungen Tell in nachdenklicher Pose. In weissem Rüschenhemd und grüner Kniehose, ein Schwert am Gürtel, markiert er eine Art Schweizer Hamlet.
Welch ein Kontrast zur mächtigen Tell-Statue von Richard Kissling, die seit 1895 in Altdorf, dem Hauptort des Kantons Uri, steht. Der muskelbepackte, bäuerische Riese hält seine mächtige Hand fast zärtlich auf den Schultern seines Sohnes Walter.
Der erste Hinweis auf die Figur des Tell erscheint im «Weissen Buch von Sarnen», einer Chronologie, die auf die frühen 1470er-Jahre datiert ist.
1477 folgte das Tellenlied, worin der Apfelschuss und die Flucht Tells besungen wurde. Nicht aber die Tötung des Habsburgischen Vogtes Gessler.
In den Chroniken von Melchior Russ (1480) und Petermann Etterlin (1507) tauchte Tell ebenfalls auf, wie auch im ersten Tellspiel, das 1512 in Altdorf aufgeführt wurde.
Rückenwind durch Massenmedium Buch
«Die Wandlung Tells vom unbekannten Bauern zum Helden, den alle Schweizer kennen, geschah in weniger als 50 Jahren, was sehr erstaunlich ist», sagt Morerod.
Wesentlichen Anteil an diesem schnellen Aufstieg hatte die Erfindung der Druckerpresse – Bücher halfen, die Geschichte rasch zu verbreiten. Eltern erzählten sie ihren Kindern, die Geschichte wurde als Theater oder Singspiel aufgeführt, insbesondere in militärischen Kreisen.
In der «Chronicon Helveticum» von 1550 machte Aegidius Tschudi Tell zum Protagnisten der Schlüsselszene in der Geschichte der Schweiz.
Zurück zur Ausstellung: Sie umfasst eine französische Version des Tellspiels und eine Darstellung des Armbrustschützen, datiert von 1560 bis 1570, die erst kürzlich im Archiv des Kantons Neuenburg entdeckt wurde. Der Fund belegt das frühe Interesse am einfachen Landmann aus Uri.
«Auch wenn er ein Eigenbrötler mit schwierigem Charakter war, ist Tell Teil des schweizerischen Gründer-Mythos, der auf den drei Säulen Einheit, Treueschwur und Harmonie basiert», sagt der Mediävist weiter.
Insbesondere nach den Erhebungen Mitte des 15. Jahrhunderts, die auf die Zürcher und Burgunderkriege folgten, war es wichtig, in der Eidgenossenschaft einen Sinn für Gemeinschaft und Solidarität zu schaffen, um ein Auseinanderbrechen zu verhindern.
Bumerang
Gesslers Tod jedoch war für die Behörden eine delikate Angelegenheit, denn die Geschichte Tells entwickelte sich zum Bumerang: Ende 16. Jahrhunderts kam es in der Zentralschweiz zu mehreren sozialen Unruhen, die von der Sage inspiriert waren. 1653 lockten drei Bauern, bekannt als die «drei Tellen», Luzerner Amtsträger in einen Hinterhalt und töteten einen Ratsherrn.
Das Szenario von um sich greifenden politischen Morden verbreitete unter dem herrschenden Adel Angst und Schrecken. Um die Gefahr einzudämmen, wurde Tell in einigen Versionen der Sage in die Nähe der drei Eidgenossen gerückt, die mit ihrem Schwur auf dem Rütli den Grundstein zur Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft gelegt hatten. In einer Darstellung war Tell der Schwiegersohn von Walter Fürst aus dem Rütlischwur-Trio.
Die Betonung der Apfelschuss-Episode und von Tells Rolle als Vater diente der Ablenkung von der Bluttat.
Ausstrahlung über Grenze hinaus
Tell entwickelte sogar eine internationale Wirkung. Im 18. Jahrhundert, als die Jakobiner Frankreichs König Louis XVI auf der Guillotine hinrichteten, beriefen sich diese unter anderem auf den Tyrannenmord von Tell.
Im 19. Jahrhundert wie noch während des Zweiten Weltkrieges wurde die Figur Tells als Symbol des Widerstands gegen Tyrannei hoch gehalten, in der Schweiz wie auch im Ausland.
1766 liess der französische Autor Antoine-Marin Tell in einem Stück über den Atlantik fahren, um im amerikanischen Bürgerkrieg für die Unabhängigkeit der Kolonien zu kämpfen.
Der Ruf Tells als eine Art Vorläufer des internationalistischen Kämpfers für die Freiheit zementierte aber vor allem Friedrich Schiller mit seinem Theaterstück von 1804 und der italienische Komponist Gioachino Rossini mit seiner Tell-Oper von 1829.
Russische Revolutionäre beriefen sich auf den Schweizer Mythos, sogar Hitler fand Gefallen an Schillers Stück, fasziniert von der Idee der Einigkeit des Volkes. Aber nach mehreren Attentatsversuchen liess er den Tell 1941 verbieten.
Moderner Held?
2004 gaben in einer Umfrage in der Schweiz 60% der Teilnehmer an, dass sie an die Existenz Tells glaubten. Historiker aber verbannen die Figur praktisch einstimmig ins Reich der Mythen. Für seine Existenz haben sich nie irgendwelche Beweise finden lassen.
Das tut der Popularität des Volkshelden aber keinen Abbruch. Jean-Daniel Morerod zeichnet gar ein rosiges Bild, was die Perspektiven Tells betrifft, und das insbesondere für das Ausland. Hollywood will im nächsten Jahr einen Tell-Film in 3D in die Kinos bringen, während eine TV-Serie, ebenfalls Made in USA, in der Pipeline steckt.
In den letzten Jahren sei der Drang nach Freiheit grösser geworden, beobachtet Morerod, «wir sollten Wilhelm Tell in den arabischen Ländern vermarkten».
Die Legende erzählt, dass Wilhelm Tell aus dem Dorf Bürglen im heutigen Kanton Uri stammte. Er war Jäger, Familienvater und sehr geschickt im Umgang mit der Armbrust. Am 18. November 1307 soll er von Bürglen nach Altdorf, Uris Hauptort, gereist sein.
Dort, auf dem Hauptplatz, grüsste er den Hut des Habsburger Landvogts Gessler nicht. Dieser hatte verlangt, dass jeder, der am Hut vorbei ging, sich vor ihm verbeugen sollte. Eine Weigerung wurde als Hochverrat betrachtet.
Tell wurde verhaftet, und Gessler drohte ihm mit der Hinrichtung, wenn er nicht seine Fähigkeit als Schütze unter Beweis stellen würde. Der Vogt setzte Tells Sohn Walter einen Apfel auf den Kopf und verlangte vom Schützen, auf den Apfel zu schiessen.
Wenn er es nicht tue, müssten beide sterben. Darauf schoss Tell seinem Sohn den Apfel vom Kopf und gestand im Nachhinein, er hätte mit seinem zweiten Pfeil Gessler erschossen, wenn seinem Kind etwas geschehen wäre.
Der Vogt weigerte sich darauf, Tell freizulassen. Der Schütze wurde in Ketten gelegt und auf ein Boot gebracht, das ihn nach Küsnacht ins Gefängnis bringen sollte.
Ein Sturm bedrohte das kleine Boot. Da nur Tell ein Kentern verhindern konnte, wurde dieser losgebunden.
Tell steuerte das Boot in die Nähe eines Felsens. Er sprang an Land und brachte sich in Sicherheit. Er beschloss, sich am Landvogt zu rächen. In der Hohlen Gasse lauerte er dem Vogt auf, erschoss ihn mit seinem letzten Pfeil – und verschwand von der Bildfläche.
Von da an hörte man nichts mehr von Tell. Er wird weder in den staatlichen Archiven in Wien, der Hauptstadt des ehemaligen Habsburger-Reiches, erwähnt, noch in historischen Dokumenten im Kanton Uri.
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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