«Wir Brasilianer sind nicht materialistisch»
Die brasilianische Vereinigung zum Schutz der Kindheit (ABAI) wurde von der Schweizerin Marianne Spiller in Mandirituba unweit von Curituba gegründet. Sie unterstützt minderbemittelte Kinder und Jugendliche sowie drogenabhängige Erwachsene. Weiter betreibt sie ein Projekt für biologische Landwirtschaft.
Die neue Direktorin, die Schweizerin Heidi Wyss-Grimm, strebt die Unabhängigkeit der Organisation an, um nicht mehr auf ausländische Hilfe angewiesen zu sein.
Heidi Wyss ist vor 15 Jahren nach Curitiba ausgewandert, auch weil sie die lateinamerikanische Musik schon immer fasziniert hat.
«Dies und das einfache Leben in Brasilien haben mich hierher gezogen. Als junge Bäuerin und Mutter träumte ich, wie ich über den brasilianischen Urwald flog. Schon in meiner Jugend wollte ich in einem Sozialprojekt im Ausland arbeiten», erzählt sie. Die Verwirklichung des Traums dauerte lange.
Heidi wurde als Tochter eines Schlossers in Schönbühl, Kanton Bern, geboren. Nach einer Verwaltungsausbildung heiratete sie und hatte drei Kinder. Nach 15 Jahren Arbeit auf dem Bauernhof ihrer Schwiegereltern studierte sie Sozialpädagogik und arbeitete in einer psychiatrischen Klinik für Jugendliche in Zürich.
In Brasilien zu Hause
In Zürich erfuhr sie zum ersten Mal von ABAI und absolvierte 1995 ein 6-monatiges Volontariat in Mandirituba.
«Alles, was ich vorher in der Schweiz in Etappen durchgeführt hatte, fand ich hier an einem einzigen Ort. Ich konnte alle meine beruflichen Erfahrungen einbringen. Da fühlte ich mich hier zu Hause», meint sie.
Heidi Wyss reiste zwischen der Schweiz und Brasilien hin und her und brach nach und nach ihre Zelte in der Schweiz ab. Im vergangenen Jahr übernahm sie die Leitung der 1979 von Marianne Spiller gegründeten Organisation.
Die Stiftung ABAI hat heute 40 Mitarbeiter und betreut 100 von ihrer Familie verlassene Kinder zwischen 6 und 16 Jahren sowie 30 Drogenabhängige.
«Wir bemühen uns darum, die brasilianische Kultur zu fördern und den Leuten nicht unsere eigenen Werte aufzuzwingen», sagt sie.
Ernährung ist wichtig
Die Mitarbeiter von ABAI besuchen die Elendsviertel, um bedürftige Kinder aufzufinden und sie zum Schulbesuch zu motivieren.
«Nach der Schule kommen sie zu uns. Sie können spielen und die Hausaufgaben machen. Wir organisieren Kurse für Kunst, Musik, Tanz, Informatik, usw.»
Heidi Wyss betont, wie wichtig die Ernährung sei: «Die Mehrheit der Kinder isst zu Hause nicht genug und geht hungrig schlafen.» ABAI verteilt täglich 200 Mahlzeiten an Bedürftige.
Die Stiftung besitzt ein Grundstück von 15 Hektaren, wo sie biologische Landwirtschaft zur Selbstversorgung betreibt und Kleinbauern Kurse anbietet.
Im Naturschutzgebiet Mata Atlântica eröffnete sie einen Wanderweg für Umweltschutzerziehung und fördert ein Projekt zum Schutz von Wasserquellen.
Therapie auf dem Land
Während zwei Jahren arbeitete Heidi auch in einem Projekt mit Strassenkindern in Curitiba. Bei den Familien dieser Kinder in den Elendsvierteln sah sie Probleme, die infolge von Alkohol- und Drogenkonsum entstanden waren.
Dies motivierte sie, im Rehabilitationszentrum von ABAI zu arbeiten. Die «Kunden» dieses Zentrums sind arbeitslose Väter, die sich mit Zuckerrohrschnaps betrinken. Die Kinder leiden mit ihren Eltern.
«Deshalb begannen wir mit Drogenabhängigen zu arbeiten. Nach der Entgiftung in einer Klinik kommen sie zu uns aufs Land, um in der Gemeinschaft eine neue Lebensetappe zu beginnen, ein Leben ohne Drogen.»
Während der Rehabilitation arbeiten sie entweder in den Büros, im Restaurant oder in der Landwirtschaft. Die Erde sei ein gutes Therapiefeld, betont Wyss.
«Und das Restaurant, wo sie auch Kochkurse nehmen können, hilft ihnen, sich soziale Kompetenzen zur gesellschaftlichen Reintegration anzueignen. Das Restaurant wird oft für Hochzeiten reserviert, gerade, weil wir keinen Alkohol ausschenken», erzählt die Auslandschweizerin weiter.
ABAI unterstützt einen Gemeinschaftsgarten im Viertel Areia Branca und trägt 30% zur Finanzierung eines Projekts für Strassenkinder in Mandirituba bei. Sie arbeitet mit lokalen politischen Institutionen zusammen. Der Grossteil der Finanzierung stammt von Organisationen in der Schweiz und Deutschland.
Das Leben nehmen, wie es kommt
In den kommenden Jahren möchte Heidi Wyss diese Situation ändern.»Wir setzen uns langfristig für die finanzielle Unabhängigkeit ein. Das bedeutet, dass wir in der Zukunft nicht nur von Europa und der Schweiz abhängig sein können. Die Brasilianer müssen in ABAI mehr Verantwortung übernehmen und sich um deren Zukunft kümmern.»
Nach 15 Jahren in Brasilien glaubt sie, dass dies machbar sei: «Wir Brasilianer sind sehr reich und nicht sehr arm. Sogar, wenn es fast nichts zu teilen gibt, wird hier geteilt. Die Europäer sind sehr selbstbezogen und fixieren sich auf materielle Dinge», meint sie.
Heidi ist mit ihrer Arbeit in Brasilien glücklich. Sie liebt das Land und seine Musik.
Als sie swissinfo in Uster (Kanton Zürich) trifft, zählt sie die Stunden, um nach Mandirituba zurückzukehren. Einen Monat war sie in der Schweiz, um Verwandte und Freunde zu besuchen und Vorträge über ihr Projekt zu halten.
«Dort habe ich das wirkliche Leben kennengelernt: indem ich mit Brasilianern lebe und arbeite. Ich habe viele getroffen, die Familienangehörige verloren haben. Ich bewundere ihren Willen, glücklich zu sein. Dies spornte mich an, auch zu kämpfen und zusammen mit ihnen glücklich zu sein.»
Geraldo Hoffmann, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Portugiesischen: Regula Ochsenbein)
Marianne Spiller wurde 1940 geboren und studierte in Zürich Psychologie.
Anschliessend machte sie in einem von Abbé Pierre geleiteten Sozialprojekt in Paris ein Praktikum.
Unter dem Einfluss von Abbé Pierre und Befreiungstheologen wie Hélder Câmara begann sie, sich für die Armen zu engagieren.
1972 wanderte sie nach Brasilien aus und gründete zusammen mit Freunden die Vereinigung «Freunde des Kinderzentrums von Mandirituba», um Geld für das Sozialprojekt zu sammeln.
1981 wurde diese in «Brasilianische Vereinigung zum Schutz der Kindheit», ABAI, umbenannt,.
Im vergangenen Jahr übergab Marianne Spiller die Leitung Heidi Wyss-Grimm.
ABAI unterstützt 100 von ihrer Familie verlassene Kinder zwischen 6-16 Jahren sowie 30 Drogenabhängige.
Sie beschäftigt 40 Angestellte und verteilt täglich 200 Mahlzeiten aus der eigenen biologischen Landwirtschafts-Produktion.
Der Glarner Fotograf Fridolin Walcher war Ende des letzten Jahres in Brasilien und fotografierte verschiedene Projekte und Persönlichkeiten der sozialen Bewegung.
Während drei Wochen begleitete er die Arbeit von ABAI in Mandirituba 150 km südlich von Curitiba.
«Hinschauen und die Offenheit der Brasilianer, von armen Familien in den Elendsvierteln von Sao Paulo, aber auch von Industriellen-Familien in Belo Horizonte haben mich täglich bewegt. Mich beeindruckte auch, dass anscheinend kein Unterschied zwischen verschiedenen Sozialschichten gemacht wird. Als ich im Süden und Nordosten des Landes arme Familien besuchte, war es für mich unverständlich, dass in einem so reichen und fruchtbaren Land Armut und Hunger herrschen,» meint der Fotograf zu swissinfo.
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