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«Wir stehen immer zwischen den Fronten»

Angelo Gnädinger erwartet von der jetzigen Konferenz in Genf eine Stärkung des Völkerrechts. Keystone

Das IKRK, seit 140 Jahren im Einsatz für die Opfer von Krieg und Gewalt, ist in den vergangenen Jahren mehrmals selber zur Zielscheibe geworden. Trauriger Höhepunkt: Der Anschlag gegen das IKRK-Büro in Bagdad.

IKRK-Generaldirektor Angelo Gnädinger im Gespräch mit swissinfo.

Zuletzt machten vor allem Angriffe gegen das IKRK in Afghanistan und Irak Schlagzeilen. So Ende Oktober, als ein Selbstmord-Attentäter mit einem mit Sprengstoff gefüllten Krankenwagen einen Anschlag auf das IKRK-Quartier in Bagdad verübte. Er riss 12 Menschen mit in den Tod.

Ihre Unabhängigkeit und Neutralität scheinen die Organisation nicht mehr vor Angriffen verschiedener Akteure zu schützen.

Seit mehr als 20 Jahren ist das IKRK im Irak tätig, zuerst im iranisch-irakischen Krieg in den 80er Jahren, dann im Irak-Krieg in den 90er Jahren und nun im jüngsten Krieg der USA und ihrer Verbündeten.

swissinfo: Herr Gnädinger, das IKRK sah sich nach dem Anschlag von Ende Oktober gezwungen, seine Tätigkeit im Irak zumindest vorübergehend einzustellen. Eine Kapitulation vor der Gewalt?

Angelo Gnädinger: Nein. Von Kapitulation kann keine Rede sein! Von Gewalt hingegen schon. Und dieser begegnen wir ja nicht nur im Irak. Im Sommer hatten wir zum Beispiel sehr kritische Tage in Liberia.

Wir sind praktisch in allen Krisenregionen der Welt tätig – sei dies in Kolumbien, Liberia, Indonesien (Aceh) oder eben im Irak. Die Gewalt, die wir selber zu spüren bekommen, ist real, wir müssen sie ernst nehmen. Aber wir bleiben sehr motiviert und aktiv.

Wenn uns jemand wirklich nicht akzeptiert und unsere Kollegen am Ort der Ansicht sind, wir müssten ein Büro schliessen, tun wir es auch. Damit entziehen wir uns aber nicht der Verantwortung – unserem Mandat. Wir müssen eben neue Mittel und Wege finden, unsere Arbeit doch auszuführen.

swissinfo: Das IKRK wird selber zum Ziel – was läuft falsch? Oder anders gefragt, haben die Entwicklungen der letzten Jahre, vor allem der von den USA nach dem 11. September 2001 lancierte «Krieg gegen Terror», ihre Arbeit zusätzlich erschwert?

A.G.: Heute stehen wir oft vor asymmetrischen Kriegssituationen: Staaten (und ihre Armeen) stehen diffusen, nebulösen Gruppen gegenüber, die schwer zu fassen und auch schwer zu kontaktieren sind. Wir müssen Wege finden, auch solchen Gruppen klar zum Verständnis zu bringen, was wir tun. Und dass wir von der Definition unserer Arbeit her immer zwischen den Fronten stehen.

Das IKRK ist auf offensive Weise neutral und unabhängig – nicht im Sinne des Niklaus von der Flüe, der da sagte «Mischt Euch nicht in fremde Händel» –, sondern neutral, damit wir uns zwischen die Fronten stellen können.

Heute gibt es eine Tendenz, dass die eine Seite (Staaten) vermehrt versucht, uns zu vereinnahmen und die andere uns vermehrt als Feind betrachtet. Vor dieser Herausforderung stehen wir.

swissinfo: Denken Sie, dass man von sinkendem Respekt für die Genfer Konventionen sprechen kann?

A.G.: Nein, ich denke, von sinkendem Respekt zu sprechen wäre falsch. Heute werden die Grundnormen getestet. Nicht zuletzt haben die Terroranschläge dazu geführt, dass heute viel mehr über die Genfer Konventionen gesprochen wird.

Immer mehr Menschen wissen Bescheid über deren Inhalt, vor allem direkt Betroffene. Und sie wehren sich auch mehr für diese Rechte, vor allem für jene der Zivilbevölkerung.

Das Wissen ist also da und die Anerkennung auch. Die Genfer Konventionen wurden zwar im Westen formuliert, sie verkörpern aber universelle Werte und wurden von der Staatengemeinschaft angenommen.

Das humanitäre Völkerrecht ist die Wallmauer zwischen Zivilisation und Barbarei, und ein «totaler Krieg» zerstört diese Wallmauer.

swissinfo: Was sagen sie zu Forderungen, die Genfer Konventionen müssten wegen ihrer westlichen Herkunft neu formuliert werden?

A.G.: Die Konventionen brauchen nicht umgeschrieben zu werden, sie müssen aber neu debattiert, neu kommuniziert werden.

Wir brauchen eine breite Debatte über die Relevanz des humanitären Völkerrechts. Und diese Fragen gehen nicht nur Armeen und bewaffnete Gruppierungen etwas an. Gefordert sind auch Politik und Zivilgesellschaft.

Wir brauchen Leute, die beharrlich darauf hinarbeiten, dass unsere Arbeit möglich wird. Wir kennen den Irak relativ gut – und gingen davon aus, dass man uns kennt. Dennoch müssen wir uns dort heute neu erklären.

Wir müssen uns noch stärker aus unseren alten, vom Westen geprägten Strukturen herausbewegen. Die Hälfte unserer Einsätze finden nämlich in islamischen Gebieten statt.

Die heutigen Auseinandersetzungen sind globaler und stark geprägt von ideologischen Ansätzen. Die Religion spielt dabei eine Rolle, aber mir scheint, dass es in Wirklichkeit um Fragen der Souveränität geht, um Auswirkungen der Globalisierung und den Widerstand dagegen.

Heute sehen wir vor allem in Afghanistan, dass man von militärischer Seite versucht, das Humanitäre zu integrieren. Dies ist problematisch. Denn wir sind der Go-between, wir können nicht Bestandteil der militärischen Aktion sein.

Womit ich nicht sagen will, dass Armeen gegenüber der Zivilbevölkerung keine Pflichten hätten (die sind in den Genfer Konventionen festgelegt), etwa als Besatzungsmacht.

swissinfo: Also auch im Fall der palästinensischen Gebiete? Das IKRK hat dort ja jüngst sein Nahrungsmittel-Programm eingestellt.

A.G.: Ja, denn es geht nicht an, dass sich eine Besatzungsmacht, in diesem Fall Israel, ihrer Aufgaben gegenüber der besetzten Bevölkerung auf unserem Buckel entledigt.

swissinfo: Und was kann das IKRK tun, wenn ein Land wie die USA völkerrechtliche Grundlagen für sich ausser Kraft setzt wie im Fall der «Guantanamo»-Häftlinge?

A.G.: Wir tun dort, was wir in andern Konfliktsituationen tun. Zugang zu den Gefangenen haben wir, sie können über uns Kontakt aufnehmen zu ihren Familien.

Noch immer nicht gelöst ist aber die Frage des Status der Gefangenen. Die Klärung dieses Status ist uns sehr wichtig. Jeder Häftling braucht eine rechtlich verankerte Lösung, besonders dringend ist es für die Jugendlichen unter den rund 660 Gefangenen.

swissinfo: Womit wir bei der Konferenz der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung wären, die unter dem Thema «Menschenwürde schützen» steht. Was erwarten Sie von der Konferenz?

A.G.: Vor allem eine Bestätigung und Stärkung des Völkerrechtes. Die Zusammensetzung der Konferenz – IKRK, Unterzeichnerstaaten der Genfer Konventionen, Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften und die nationalen Gesellschaften – ist in dieser Hinsicht sehr interessant.

Viel Gewicht messen wir auch den speziell vorbereiteten Themen bei, etwa dem Bereich Kriegs-Vermisste. Hier verbergen sich grosse menschliche Tragödien, die, wenn ungelöst, den Friedensprozess erschweren. Zur Illustration: Noch heute suchen Menschen nach ihren Angehörigen, die seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen sind.

swissinfo: Sie arbeiten jetzt schon fast 20 Jahre für das IKRK. Wie schaffen Sie es persönlich, sich angesichts der wachsenden Gewalt immer wieder für ihre Arbeit zu motivieren?

A.G.: Jetzt, wo ich nicht mehr im Feld tätig bin, kann es manchmal schon etwas schwieriger werden. Wenn ich dann aber eine unserer Delegationen besuche und sehe, was wir bewirken können, ist alles wieder klar.

Meinen letzten Motivationsschub erhielt ich vor kurzem bei einem Besuch in Afghanistan und insbesondere in unserer orthopädischen Einrichtung in Kabul. Seit fast 20 Jahren leisten unsere Leute dort eine phantastische Arbeit für kriegsversehrte Menschen.

swissinfo-Interview: Rita Emch

Seit 1984 ist der Jurist Angelo Gnädinger beim IKRK, zuerst als Delegierter im Nahen Osten und in Afrika, dann am Hauptsitz in Genf
1992-1994: Leiter der Abteilung Gefangenenbesuche
1994-1998: Generaldelegierter für West- und Mitteleuropa und den Balkan
1998-2002: Generaldelegierter für Europa, Nahen Osten und Nordafrika
Seit Juli 2002: Generaldirektor

Die 28. Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Konferenz findet vom 2. bis 6. Dezember in Genf statt. Sie steht unter dem Motto «Menschenwürde schützen».

Die Schweiz, Depositärstaat der Genfer Konventionen, wird an der Konferenz vertreten durch Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Die Konferenz ist ein wichtiges Anliegen der Schweiz. Dies in Anbetracht ihrer humanitären Tradition und als Vertragspartei der Genfer Konventionen von 1949 und der Zusatz-Protokolle.

Die 191 Vertragsstaaten, nationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften sowie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) werden Leitplanken festlegen für die humanitären Aktionen der kommenden vier Jahre.

Hauptthemen der Konferenz sind das humanitäre Völkerrecht, Kriegs-Vermisste, Katastrophen sowie übertragbare Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria.

Die Schweiz ist bei einigen Workshops als Mitorganisatorin beteiligt, unter anderem bei den Themen «Internationales Völkerrecht und die Herausforderungen der heutigen bewaffneten Konflikte» und «Kinder und bewaffnete Konflikte: Junge Leben schützen und wieder aufbauen».

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