«Wir wünschten den Schweizern ein Sommermärchen»
Während die Schweizer Nati vorzeitig ausschied, blieb die deutsche Mannschaft bis zum Schluss dabei. Der Blogger Jens-Rainer Wiese, einer von über 200'000 Deutschen in der Schweiz, schildert swissinfo, wie er die EM in seinem Gastland Schweiz erlebt hat.
Seit sieben Jahren leben wir als Deutsche in der Schweiz. 2002 stand Deutschland bei der Weltmeisterschaft im Endspiel gegen Brasilien.
Unsere Tochter kam traurig aus der Primarschule, weil alle ihre Mitschüler für Brasilien waren, obwohl niemand so genau wusste, wo dieses Land eigentlich liegt. Egal, Hauptsache Deutschland verliert.
So lernten wir das «BND-Syndrom» der Schweizer kennen. Bei internationalen Fussballturnieren möge «bloss nicht Deutschland» gewinnen.
«Hub Schwitz» in Köln
2006 erlebten viele Schweizer Fans in Köln an der WM, wie Deutsche im Stadion ebenfalls «Hub Schwitz» riefen, was sie zuvor den Schweizern abgelauscht hatten.
Sie waren erstaunt über die starke Sympathie der Deutschen für ihr Land, und mochten kaum erzählen, wie es anders herum aussah.
Bei einem Autokorso in Zürich nach dem gewonnenen Spiel gegen Schweden entriss uns ein Kantonspolizist die Deutschlandflagge, wir wurden vom Strassenrand beschimpft und auf der Autobahn gefährlich abgedrängt.
Viele Deutsche fuhren nach diesen Erfahrungen bei der Euro 08 nur noch mit einer zweiten Schweizer «Beschwichtigungsflagge» neben der Deutschlandflagge am Auto herum. Es hat nicht viel genützt.
Deutschlandflaggen wurden abgebrochen, der Lack zerkratzt und Aussenspiegel zerstört, so dass schliesslich kaum ein Deutscher noch gewillt war, sein Fahrzeug geschmückt und unbewacht in Zürich abzustellen.
Leider kein Sommermärchen der Nati
Wir fieberten mit den Schweizern bei jedem Gruppenspiel, weil wir ihnen auch ein «Sommermärchen» wünschten. Wir sahen die Tränen von Alex Frei, der vom ZDF-Kommentator nur «der Dortmunder» genannt wurde, und für den das Turnier bereits nach 40 Minuten gelaufen war.
Wir bejubelten die Schweizer Tore gegen die Portugiesen, auch als sie schon ausgeschieden waren. «Hopp Schwiiz» Flaggen wurden weiterhin mit grossem Durchhaltevermögen von den Schweizern spazierengefahren.
Nun waren alle Schweizer Portugiesen. Das ist auch ein kleines Land und wenn die Meister werden, ja dann wären die Schweizer irgendwie auch Meister, weil sie ja Portugal in der Vorrunde geschlagen hatten.
Erst für Portugal, dann für Holland
Doch es kam anders. Portugal flog raus und man wechselte in der Schweiz zur Farbe «Oranje». Die SBB-Mitarbeiter mussten ihre orangenen Sicherheitswesten gegen gelbe eintauschen, weil ihnen beim Überschreiten der Gleise Fans nachgelaufen waren.
Die Holländer hoben die Stimmung und den Bierumsatz in Bern und Basel, sorgten dort für die Auslastung der Fanmeilen, während in Zürich gähnende Leere in den Fan-Quartieren herrschte.
Die Sympathie der Schweiz galt fortan Holland, ebenfalls ein kleines Nachbarland von Deutschland, aber doch viel netter. Als die «Oranjes» auch aus dem Turnier flogen, wurde es schwierig für die Schweizer.
Sollte man nun zu den Russen halten oder doch zu Spanien? Manch Schweizer verabschiedete sich ganz von der Euro 08 und fuhr «Last Minute» in die Ferien.
Nach dem starken Spiel der Deutschen gegen Portugal bemerkten wir einen Sinneswandel. Es mehrten sich Schweizer Stimmen, die ihre Sympathie für Podolski, Lahm und Ballack äusserten.
Bekennende FC-Bayern-Fans trifft man in der Schweiz häufig an, und am Samstag die Bundesliga zu verfolgen gehört, bei aller Antipathie gegenüber den Deutschen, zum Wochenendritual eines jeden Schweizer Fussballfans. Man will ja wissen, was Alex Frei in Dortmund so treibt, oder?
SF-Signal für Fan-Meile in Deutschland
Im Halbfinale rettete das Schweizer Fernsehen mit seinem Satelliten-Signal die Stimmung auf den Fanmeilen in Deutschland: Als die Sendezentrale in Wien beim Gewitter 18 Minuten kein Bild übertrug, schalteten die Techniker des ZDFs kurzerhand das Schweizer Signal auf.
Die Berichterstattung der Schweizer Medien war neutral. Es wurde nicht ständig vom «Zufall» und «Arbeitssieg» der Deutschen gesprochen wie bei früheren Tunieren. Die Stimmen waren kritisch und anerkennend.
Vor dem Finale galten die Spanier bei den Wettbüros als Favorit. Sie spielten erstklassigen Fussball und holten sich verdient den Titel. In der Schweiz konnte man «ufschnuufe», weil «BND» eingetreten war.
Wir freuten uns über den Vizemeister und waren traurig, dass dieses aufregende Turnier nun vorbei ist. Kein Deutscher in Zürich musste sich die Frage stellen, ob er es wagen solle, Autokorso zu fahren oder nicht und «für einmal» waren alle Schweizer Spanier. «Viva!»
swissinfo, Jens-Rainer Wiese
Stammt aus Gelsenkirchen im Ruhrgebiet.
Am 1. September 2005 startete er sein Internet-Tagebuch «Blogwiese», das weite Beachtung fand. Darin schrieb er fast jeden Tag einen Artikel (Post) über seine Erlebnisse und sprachlichen Entdeckungen. Heute bloggt er nur noch, wenn etwas Wichtiges passiert.
Der 44-jährige Deutsche lebt mit Frau und Tochter seit sieben Jahren in Bülach, einer Kleinstadt im Zürcher Unterland.
Von Beruf ist er Französisch- und Deutschlehrer. Zur Zeit arbeitet er als IT-Consultant bei einer Firma in Zürich.
Gemäss Ausländerstatistik per Ende 2007 sind von den gut 7,5 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern 1,57 Mio. Ausländer. Das sind 20,7%.
Mehr als 200’000 oder 12,9% aller Ausländer stammen aus Deutschland.
Deutschland steht damit nach Italien (18,43%) an 2. Stelle, gefolgt von Serbien (11,6%) und Portugal (11,6%).
Rund 40’000 deutsche Staatsangehörigen kamen 2007 in die Schweiz, etwa 10’000 haben sie verlassen.
2007 haben 1361 Deutsche das Schweizer Bürgerrecht erworben. 2006 waren es 1134.
Seit August 2007 können die Deutschen Doppelbürger sein. Seither haben die Gesuche um die Schweizer Staatsbürgerschaft markant zugenommen.
Die Schweiz ist in den letzten Jahren zum beliebtesten Auswanderungsziel für Deutsche geworden.
Über die Hälfte der in der Schweiz wohnhaften Deutschen sind Führungskräfte oder Akademiker.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch