Wolf in der Schweiz: Schafzüchter:innen im Wallis leben in ständiger Angst
Der präventive Abschuss von fast 40 Wölfen im letzten Winter hat die Konflikte zwischen den Grossraubtieren und der Schweizer Alpwirtschaft nicht gelöst. Viele Schafzüchter:innen fürchten weiterhin um ihre Zukunft. Ein Augenschein im Wallis.
Es herrscht Hundewetter in Gampel im Wallis: Regen, starker Wind und eine Temperatur von knapp über null Grad. Es ist Ende März und für das Dorf südlich von Visp ist es ein besonderer Tag. Heute findet der traditionelle WiddermarktExterner Link statt.
Die Widder sind in der Nähe vom Feuerwehrmagazin zusammen mit den Schafen in einer Scheune aufgereiht. Unter dem Vordach blöken die Tier im Chor. Aus einem Lautsprecher erklingen die Töne eines sommerlichen Schlagers.
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Das Fest der Weissen Alpenschafe
Der Widdermarkt ist ein Festtag für die Züchter:innen der Weissen Alpenschafe des Oberwallis. Heute werden das schönsten Schafe und Hammel in unterschiedlichen Kategorien prämiert.
Der Oberexperte Angelo Rizzi bewertet die Tiere mit seinem geschulten Auge – 40 Jahre schon macht er diesen Job. Er ist am frühen Morgen von Luzein im Kanton Graubünden angereist, um die prächtigsten Exemplare zu krönen. «Wir befinden uns im Herzen der alpinen weissen Schafzucht. Nirgendwo in der Schweiz ist die Qualität dieser Rasse besser als im Oberwallis», erklärt Rizzi.
Nach Kriterien wie Gewicht, Beinstellung, Gang und Wollqualität trifft der Juror seinen Entscheid. Mit einem blauen Filzstift schreibt er eine «1» auf den Rücken des schönsten Widders der Ausstellung: «Mister Gampel» gehört Pius Lehner aus dem Lötschental.
Ein schüchternes Lächeln zeichnet sich auf dem Gesicht des Züchters ab. Für ein paar Sekunden wölben sich seine Mundwinkel leicht, dann wird der Ausdruck wieder ernst. Doch es ist zu spüren, dass er innerlich eine enorme Freude verspürt. «Es gibt keine grössere Genugtuung, als den Einsatz einer ganzen Saison belohnt zu sehen», sagt Pius Lehner.
Vielleicht hält sich sein Glück in Grenzen, weil er weiss, dass die Freude nicht lang dauern wird. «Mit dem schönen Wetter kommen auch die schlaflosen Nächte zurück», sagt Lehner. Denn die Tiere werden in den kommenden Monaten ihre Tage im Freien verbringen. Und dort könnten sie zu einer leichten Beute für Wölfe werden.
«Die Situation ist völlig aus dem Ruder gelaufen», sagt Fabian Schwery, Präsident des Oberwalliser WAS-VerbandesExterner Link. WAS steht für Weisses Alpenschaf. Seiner Meinung nach gibt es zu viele Wölfe, was dazu führe, dass die Schafzüchter:innen das ganze Jahr in Angst lebten.
Konkret: Im Jahr 2023 wurden gemäss einer offiziellen StatistikExterner Link im Kanton Wallis 71 Wölfe identifiziert und 13 Wolfsrudel nachgewiesen. Im gesamten Kantonsgebiet kam es zu 150 Wolfsangriffen. Dabei wurden 401 Nutztiere gerissen. Für die Züchter:innen ist das ein Alptraum. «Wir wollen die Wölfe nicht. Wir haben früher sehr gut ohne sie gelebt», so Schwery.
50 bis 100 Rudel sind in der Schweiz möglich
Um Konflikte zwischen der Alpwirtschaft und dem Wolf zu mindern, hat der Bundesrat am 1. November 2023 eine Änderung der Jagdverordnung verabschiedet. Diese erlaubt erstmals einen präventiven Abschuss von Wölfen, das heisst bevor es zu Schäden kommt. Grund für diese Massnahme ist laut Bundesamt für Umwelt der exponentiell wachsende Wolfsbestand und die damit verbundene Zunahme von gerissenen Nutztieren, insbesondere von Schafen.
Bis 2020 gab es 11 Rudel und mehr als 100 Wölfe. Vor der proaktiven Regulierung waren 30 Rudel und 300 Wölfe nachgewiesen worden. «Der Wolfsbestand hat sich alle zwei bis drei Jahre verdoppelt», sagt Fridolin Zimmermann, Koordinator für Grossraubtiermonitoring bei der Stiftung KORAExterner Link.
Entgegen einer naheliegenden Annahme haben die Angriffe nicht proportional zur Anzahl der Wölfe zugenommen. Die Daten zeigen einen Höchststand von 1789 Angriffen im Jahr 2022 auf, einem Rekordjahr. Im Jahr 2023 gingen die Attacken auf 992 zurück, womit der Durchschnittswert der letzten drei Jahre wieder erreicht wurde.
Daniel Mettler, Teamleiter der Gruppe für ländliche Entwicklung bei der landwirtschaftlichen Beratungsstelle AgrideaExterner Link ist überzeugt, «dass langfristig ein klarer Zusammenhang zwischen den tödlichen Rissen von Nutztieren und der Zunahme der Wolfspopulation besteht. » Eine genauere Analyse der Schadensstatistiken zeige jedoch grosse jährliche Schwankungen auf, die von Herdenschutzmassnahmen, Wolfsabschüssen und Strukturveränderungen in der Nutztierhaltung abhängig seien.
Während der ersten präventiven Regulierung des Wolfsbestands zwischen dem 1. Dezember 2023 und dem 31. Januar 2024 wurden insgesamt 38 Wölfe abgeschossen, davon 27 im Wallis.
«Es ist aber noch zu früh, um die Auswirkungen der Verordnung auf die Nutztierschäden und die Entwicklung der Wolfsbestände zu beurteilen», sagt KORA-Experte Zimmermann. Die Sömmerung der Nutztiere habe noch nicht begonnen. Und die Brunstzeit sei gerade erst zu Ende gegangen. Das heisst: Die Lämmer werden zwischen Ende April und Anfang Mai geboren. «Wir müssen bis zum Ende des Sommers oder bis zum Herbst warten, um einen genauen Überblick über die aktuelle Situation der Herden im Jahr 2024 zu erhalten», so Zimmermann.
Am 27. März 2024 hat der Bundesrat das Vernehmlassungsverfahren zur Revision der JagdgesetzverordnungExterner Link eröffnet. Wenn die angepasste Jagdverordnung – wie vorgesehen – am 1. Februar 2025 in Kraft tritt, können die Kantone jedes Jahr vom 1. September bis 31. Januar den Wolfsbestand präventiv regulieren, also bevor die Wölfe Schäden angerichtet haben.
Zudem erhalten die Kantone das Recht, während der Sommermonate schadenstiftende Wolfsrudel reaktiv zu regulieren, also nachdem Schaden entstanden ist. Gemäss Bundesrat bleibt in Gebieten mit Wölfen guter Herdenschutz zentral. Für 2024 hat das Parlament rund 7,5 Millionen Franken für Herdenschutzmassnahmen gesprochen.
Es wird geschätzt, dass in der Schweiz – in den Alpen und im Jura – rein biologisch zirka 50 bis 100 Wolfsrudel leben könnten. Diese Schätzung basiert auf der Tragfähigkeit des Ökosystems (auf Englisch carrying capacityExterner Link). «Die soziale Toleranzschwelle liegt sicher tiefer», sagt Zimmermann.
In der Tat. Für den Walliser Schafzüchter Fabian Schwery sollte es überhaupt keine Raubtiere geben. «Wenn als Folge der Wolfspräsenz Alpen aufgegeben und nicht mehr bestossen würden, hätte dies gravierende Folgen für die Biodiversität», argumentiert Schwery, der im Rappental eine Alp bewirtschaftet. «Wenn die steilen Hänge im Oberwallis nicht mehr beweidet werden könnten, wären die darunter liegenden Dörfer wegen der Gefahr von Erdrutschen und Lawinen unbewohnbar.»
Natur- und Umweltverbände sind hingegen der Meinung, dass der Wolf als einheimische Tierart ein Recht hat, in der Schweiz zu leben und auch Teil der Biodiversität ist. «Das exponentielle Wachstum ist nur vorübergehend, denn die Wolfsbestände regulieren sich von selbst. Zudem wird die Zahl der Wölfe auch vom Menschen gesteuert», betont Sara Wehrli, Projektleiterin Jagdpolitik und Grosse Beutegreifer von Pro NaturaExterner Link.
Die Spezialistin für Grossraubtiere weist darauf hin, dass Pro Natura proaktive Eingriffe unterstützt, wo sie nötig sind, um schwere Schäden zu verhindern. Sie kritisiertExterner Link jedoch die Absicht, ganze Rudel auszulöschen, die in der Vergangenheit kaum Nutztiere gerissen haben.
Das neue Zusammenleben mit Grossraubtieren
Das Zusammenleben mit Grossraubtieren stellt für die Alpwirtschaft eine grosse und schwierige Herausforderung dar. Denn in den letzten Jahrzehnten hat man verlernt, mit diesen Tieren zu leben.
In der Schweiz wurde der letzte Wolf 1954 im Poschiavo-Tal geschossen. Seine Rückkehr wurde durch den Schutz im Rahmen der Berner KonventionExterner Link, der Ausbreitung von Wäldern und der Zunahme von Wildtieren ermöglicht. «Ich bin überzeugt, dass wir wieder lernen werden, mit den Grossraubtieren zu leben, auch wenn es immer eine konfliktreiche Beziehung bleiben wird», sagt Pro-Natura-Vertreterin Wehrli.
Sicher ist: Es ist ein langsamer und komplexer Prozess, der 1995 mit der Ankunft der ersten Wölfe aus Italien begann. Das erste Rudel bildete sich erst viel später im Jahr 2012 in der Calanda-Region im Kanton Graubünden.
Wer weiss, wie viele Geschichten die Wölfin F07 erzählen könnte, wenn sie noch am Leben wäre. Sie wurde an einem Montagabend im August 2023 erschossen. Sie war zwischen 13 und 14 Jahre alt und galt damit als die älteste Wölfin der Schweiz. Ihr Leben war ein grosses Abenteuer. Sie kam aus Italien in die Schweiz, wahrscheinlich über den Grossen St. Bernhard, und wurde erstmals im Juni 2011 im Oberwallis gesichtet.
Später zog sie in den in den Kanton Graubünden, wo sie im Mai 2012 mit dem Männchen M30 das erste Wolfsrudel in der Schweiz seit über 150 Jahren bildete. Die beiden Wölfe sind vermutlich gemeinsam in die Rätischen Alpen migriert. Das Paar hat zwischen 2013 und 2019 genau 46 Junge gezeugt. Das ist ein Rekord für die Schweiz.
Anfang August 2023 irrte F07 in der Nähe von Haldenstein umher, am Fusse des Calanda-Massivs. Sie war mittlerweile alt und schwach. Ein Schuss aus einer Schrotflinte, abgefeuert von einem Wildhüter, beendete ihr Leben. Mit diesem Tod fügte F07 ein weiteres Kapitel zu ihrem abenteuerlichen Leben hinzu. Die pathologische Untersuchung durch das Institut für Fisch- und Wildtiergesundheit Bern ergab, dass das Tier an einem bösartigen Lungentumor gelitten hatte und bereits zweimal ins Visier von Wilderern geraten war. Das Röntgenbild zeigte einen alten Gewehrschuss und im rechten Vorderbein wurden Fragmente eines weiteren Geschosses gefunden.
Vielleicht wird F07 in Zukunft ihre Geschichte im Naturhistorischen Museum in Chur erzählen, wo sie neben dem 1954 im Puschlav erlegten Wolf ausgestellt werden könnte.
«Inzwischen haben wir fast 30 Jahre Erfahrung gesammelt», sagt Daniel Mettler von Agridea. Und fügt an: «Im Talboden kann das Kleinvieh oft mit Elektrozäunen ausreichend geschützt werden, während auf den Alpweiden der Einsatz von Herdenschutzhunden und Hirten die wirksamsten Massnahmen darstellen.»
Auf der Alp von Fabian Schwery im Rappental wird beispielsweise seit 2010 ein Schutzkonzept umgesetzt: Die rund 750 Schafe werden nachts vom Hirten zusammengetrieben und von Herdenschutzhunden bewacht. Die Umsetzung dieser Strategie brauchte Zeit und musste verschiedene Hindernisse überwinden, aber seither sind nur noch sehr wenige Nutztiere gerissen worden.
«Wir hatten im letzten Jahr keine Übergriffe, aber der Aufwand ist enorm», bestätigt Schwery. Doch er betont gleichzeitig, dass es sehr schwierig sei, junge Leute für die Aufzucht von Weissen Alpschafen in den Berggebieten zu gewinnen. Zudem können nicht alle Alpen geschützt werden. Gemäss einem Bericht zum HerdenschutzExterner Link im Kanton Wallis sind 25% der 152 Walliser Alpweiden «nicht schützbar».
Der Grund: Sie sind zu steil, zu felsig oder bewaldet. «Die Topografie und die Art des Betriebs sind nur zwei Elemente», sagt Mettler, «es müssen zudem auch sozioökonomische Aspekte berücksichtigt werden – so ist die Anstellung eines Schafhirten nur bei einer Herde von mindestens 300 Schafen nachhaltig.»
Züchter Pius Lehner aus dem Lötschental betreibt die Schafzucht im Nebenerwerb. Er erzählt, dass er seine Schafe im Sommer unbeaufsichtigt in den Bergen weiden lässt. «Wir sind vier Landwirte und wechseln uns ab, um nach ihnen zu sehen», erklärt Lehner. Zum Glück habe der Wolf diese Alp, die von steilen Hängen und Felswänden geprägt sei, bisher verschont. Es sei unmöglich, dort Schutzmassnahmen für die Herden zu ergreifen. «Doch vielleicht sind wir eines Tages gezwungen, die Alp aufzugeben», so Lehner.
Wenn sich Herdenschutzmassnahmen als unwirksam oder nicht anwendbar erweisen, kommen in der Schweiz die beiden anderen Säulen des Wolfsmanagements zum Tragen. Die erste ist der gezielte Abschuss von problematischen Wölfen oder Rudeln, die zweite ist die Entschädigung für Schäden, die grosse Raubtiere an Nutztieren verursachen. Die Entschädigungen werden zu 80% vom Bund und zu 20% von den Kantonen getragen.
Für die Landwirte, die am Widdermarkt in Gampel anwesend sind, kann jedoch keine Entschädigung den Verlust eines liebevoll gezüchteten Tieres ausgleichen. Zwei bis drei Stunden pro Tag widmet Pius Lehner der Pflege seiner Schafe: «Der erste Preis bei dem Wettbewerb erfüllt mich mit Genugtuung, aber ich würde ohne die Präsenz des Wolfes ruhiger schlafen.»
Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob
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