Zürich: Wie die Welthauptstadt der Wohnungsnot ihr Problem angeht

In Zürich stehen im Schnitt nur 7 von 10'000 Wohnungen leer. Es ist der tiefste Wert der Schweiz, ja wahrscheinlich der westlichen Welt. Welche Rezepte hat die Stadt gegen die Wohnungskrise?
Wer in Zürich eine Wohnung sucht, hat ein Problem. Ausruhen, so ein beliebter Witz, kann er oder sie sich höchstens in einer der Warteschlangen bei den Wohnungsbesichtigungen.
Solche Schlangen sind ein typisches Bild in der Wirtschaftsmetropole. Erst vor ein paar Monaten ging ein Video der Komikerin Lara Stoll viral, das zeigt, wie sie mit rund 300 anderen Personen für eine Wohnungsbesichtigung ansteht.
Der Markt in Zürich ist ausgetrocknet, zumindest, wenn man die Leerwohnungsziffer zu Grunde legt. Sie wird an einem Stichtag erhoben und erfasst die zu diesem Zeitpunkt nicht bewohnten Objekte. Mit 0,07 Prozent ist der Wert in Zürich der tiefste der Schweiz, gemäss unseren Daten gar der westlichen Welt.
SWI swissinfo.ch hat Vergleichszahlen von stark nachgefragten Metropolen überall auf dem Globus zusammengetragen. Datenqualität und Erhebungsmethode sind nicht überall identisch, aber selbst mit diesem Vorbehalt sticht Zürich heraus.

Die mit rund 450’000 Einwohnerinnen und Einwohnern grösste Schweizer Stadt ist schon lange mit dem Thema konfrontiert, aber der Druck wächst stetig. Erst Anfang April haben Tausende auf der Strasse gegen die Wohnungsnot demonstriert.
Abgehobene Bodenpreise
Um die Wohnungsnot zu bekämpfen, hat die Politik letztes Jahr eine neue Stelle bewilligt; seither kümmert sich Philippe Koch als «Delegierter Wohnen» um den knappen Zürcher Wohnraum.
Die Presse hat den früheren Dozenten für Stadtpolitik und urbane Prozesse der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften «Mister Wohnen» getauft. Es ist ein Titel, der ihm nicht behagt.
Wir treffen Koch zusammen mit Anna Schindler, Direktorin der Stadtwicklung Zürich, im Zürcher Stadthaus.
Schindler hat hier, hoch oben, ein Eckbüro mit Blick auf das Limmatquai und die Fraumünster-Kirche. Ihre Aufgabe und die von Koch ist es, die Stadt auch von unten zu betrachten, aus der Perspektive der vielen, die sich Zürich kaum mehr leisten können.
Der politische Auftrag lautet: Bis 2050 soll ein Drittel aller Mietwohnungen gemeinnützig sein. Das bedeutet, dass damit keine Gewinne erzielt werden dürfen. Und natürlich sollen diese Wohnungen sinnvollerweise im günstigen und mittleren Segment positioniert sein.
Der Anteil gemeinnütziger Wohnungen in Zürich stagniert seit Jahren – er liegt je nach Definition bei 27 oder 29 Prozent.
Kaufen, kaufen, kaufen
Was also tut die Stadt? «Wir kaufen sehr viel, viel mehr als früher», sagt Schindler. Die Stadt habe ein Mandat dafür und auch Geld. Seit Anfang 2025 stehen ihr, aber auch gemeinnützigen und weiteren Bauträgern zusätzliche 300 Millionen Franken aus dem sogenannten Wohnraumfonds zur Verfügung.
Die strukturellen Probleme aber löst das Geld nicht. «Es ist ein Bietermarkt. Es gibt kein Vorkaufsrecht», sagt Schindler. «Ab einem gewissen Punkt kann die Stadt nicht mehr mitbieten, wie zum Beispiel beim Üetlihof.»

Üetlihof, das ist der einstige Credit-Suisse-Campus, er gehört seit 2012 dem norwegischen Staatsfonds. Die Zürcher Regierung wollte das «zweitgrösste zusammenhängende Grundstück der Stadt» 2022 als strategische Reserve kaufen, für 1,2 Milliarden Franken. Der Antrag aber fiel im Stadtparlament knapp durch.
Die Episode illustriert das Hauptproblem der Stadt Zürich: Die Bodenpreise haben abgehoben und der Stadt fehlt das Land. «Die Stadt hat in den 80er-Jahren viel Land verkauft, jetzt müssen wir es teuer zurückkaufen», sagt Schindler.
Die Hälfte eines Wohnungspreises wird heute durch den Bodenpreis bestimmt. Koch sieht darum eine der Lösungen für die Wohnungskrise in der Entflechtung von Bodenmarkt und Wohnungsmarkt.
Ein Instrument der öffentlichen Hand dafür ist das Baurecht, dass also städtisches Land gegen einen Baurechtszins gemeinnützigen Bauträgern zur Verfügung gestellt wird. Aber eben: Die Stadt Zürich hat nur noch begrenzt Land.
Andere Instrumente, die auch private Eigentümerinnen und Eigentümer in die Pflicht nehmen, sind in der Schweiz schwieriger umsetzbar. Etwa die Besteuerung von un- oder untergenutzten Flächen, um Bodenspekulationen einzudämmen.
Die Stadt Zürich setzt im Umgang mit Privaten bisher eher auf Zuckerbrot als auf Peitsche; sie erlaubt beispielsweise eine höhere Ausnutzungsziffer (also Bebauungsdichte), wenn dafür ein Teil der Wohnungen gemeinnützig ist.
Verdichtung und Wahrheit
Das grösste Wachstumspotenzial und stärkste Mittel gegen die Wohnungsnot in Zürich liegt in Ersatzneubauten. Aufstockungen und Anbauten hingegen rechnen sich für Investoren oft nicht. Auch städtebaulich, «in Bezug auf Stadträume», gebe es Argumente gegen die Idee, überall einfach ein Stockwerk drauf zu packen, sagt Schindler.
Bei Ersatzneubauten steht – dank Verdichtung – hinterher im Schnitt 87 Prozent mehr Wohnraum zur Verfügung, das zeigte eine Erhebung vor zwei Jahren. Das Problem sind die Begleiterscheinungen.
Mit den Neubauten gehen die Mieten hoch. Ein Teil der bestehenden Altbau-Mieterinnen und -Mieter wird vertrieben, das gilt selbst bei gemeinnützigen Bauträgern. Es ist ein Zielkonflikt, eine Frage der Verteilgerechtigkeit.
«Wir brauchen beides, Subjekt- und Objektförderung», sagt Koch dazu. Übersetzt heisst das: Das Sozialamt muss Geringverdiener ausreichend unterstützen – und die Stadt gemeinnützige und subventionierte Wohnungen bereitstellen.
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Die Alternative ist eine fortgesetzte Gentrifizierung. «Das unterste Drittel muss sich heute auf Wohnungen bewerben, die über 50 Prozent des Haushaltseinkommens auffressen», sagt Koch. Als Faustregel gilt in der Schweiz, dass Wohnkosten nicht mehr als ein Drittel des Einkommens ausmachen sollen.
Gnadenlose Preisspirale
Das Problem der zu hohen Mieten in Zürich reicht unterdessen bis tief in den Mittelstand. 40 Prozent gaben 2023 bei einer Bevölkerungsbefragung an, die Mieten seien gemessen am Einkommen zu hoch.
Das gilt insbesondere für die Leute, die eine neue Wohnung suchen. Die sogenannten Angebotsmieten sind 26 Prozent höher als die Bestandsmieten.
Nur ein Teil davon erklärt sich daraus, dass auch Neubauten unter den Angeboten sind, die naturgemäss mehr kosten. Es dreht eine gnadenlose Preisspirale. Funktionierende Instrumente dagegen hat die Stadt Zürich, wie die gesamte Schweiz, noch nicht gefunden.
Die Wohnungskrise hat auch mit den Lebensmodellen zu tun und mit der Demographie. Die Zahl der Personen pro Haushalt hat ab-, der Flächenverbrauch pro Kopf zugenommen.
In Zürich wohnen heute etwa so viele Menschen wie schon einmal in den frühen 60er-Jahren – trotz einem Nettowachstum von fast 90’000 Wohnungen. Wird heute verdichtet gebaut, wurde damals verdichtet gewohnt.

Mit Rekursen wird Geld verdient
Am Ende ist es die Nachfrage, welche die Preise antreibt, und es sind die Löhne der Spitzenverdiener, die in Zürich bei Google oder im Finanzsektor arbeiten, unter ihnen viele Expats.
«Es ist eine Realität, dass die Einkommen in der Stadt im Schnitt gestiegen sind und mit ihnen die Land- und Mietpreise», sagt Schindler.
Um die Preise ins Lot zu bringen, wäre ein grösseres Angebot nötig. Die Bautätigkeit in Zürich ist wie in vielen Zentren der Schweiz aber stark erschwert. Nicht nur dauern hier die Bewilligungsverfahren länger, es kommt auch viel häufiger zu Rekursen.
«Gegen 70 Prozent der Zürcher Projekte gibt es Einsprachen», sagt Koch. In der Regel seien diese nur auf Verzögerungen angelegt, oder um bei grossen Vorhaben eine finanzielle Einigung zu erzielen.

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Eine Patentlösung für die Zürcher Wohnungsnot sehen Koch und Schindler nicht. Es brauche den Dialog, auch mit renditeorientierten Institutionen wie Pensionskassen, um die Entwicklung sozialverträglich zu gestalten und politisch abzustützen.
Weder auf den Markt vertrauen, noch stärker regulieren, sondern miteinander reden – es ist der Refrain der Schweizer Politik, der aus dem Zürcher Stadthaus erklingt.
Koch und Schindler lassen auch durchblicken, dass die Wohnungskrise nicht die Krise aller Zürcherinnen und Zürcher ist. Eine Verzerrung gibt es demnach nicht nur im Markt, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung.

So hat kürzlich die Vermietung der von der Stadt neu gebauten Siedlung Tramdepot Hard Externer LinkSchlagzeilen Externer Linkgemacht. Die Grossüberbauung liegt direkt an der Limmat und grenzt im Süden an den trendigen Kreis 4. Für die ausgeschriebenen rund 140 Wohnungen gingen fast 15’000 Bewerbungen ein.
Solche Zahlen werden laut Schindler überbewertet: «Viele bewerben sich einfach. Es sind nicht zehntausende Bedürftige.» Eine grosse Zahl der Interessentinnen und Interessenten habe schon eine Wohnung in Zürich und würde sich einfach auf gut Glück bewerben. Die Verfahren seien, seit sie online abgewickelt würden, sehr niederschwellig.
Die Erfahrung der Stadt zeigt ausserdem: Viele haben nicht einmal das Kleingedruckte gelesen. Für die Siedlung gibt es Einkommens- und Vermögensgrenzen. Ein guter Teil der Bewerbenden ist bei genauem Hinsehen gar nicht für eine Wohnung berechtigt.
Viele finden das aber gar nie heraus. Denn sein Bewerbungsdossier einreichen darf in der Welthauptstadt der Wohnungsnot nur, wer von einem Zufallsgenerator ausgelost wurde.
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Editiert von Balz Rigendinger

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