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Zona: Sibirisches Wort für Gefängnis

Mittagspause für Häftlinge in Krasnojarsk. Carl De Keyzer/Magnum Photos

Eine Foto-Ausstellung des Internationalen Rotkreuz-Museums in Genf widmet sich dem Alltag in den heutigen Straflagern Sibiriens.

Die Bilder vermitteln den Eindruck, dass die Lager-Insassen eigentlich menschlich behandelt werden, und doch…

Es drängt sich die Frage auf, wie menschlich es sein kann, Männer und Frauen – sowie Jugendliche im Schulalter – in den oft feindlichen klimatischen Bedingungen der weiten russischen Einöde einzusperren.

Zwischen 2002 und 2004 verbrachte der belgische Fotograf Carl de Keyzer mehrere Monate in der Gegend von Krasnojarsk und konnte im Auftrag der Agentur Magnum einige Gefangenenlager besuchen und fotografieren.

Punkto Ausmass und Haftbedingungen sind die Straflager um einiges besser geworden seit den schlimmsten Zeiten der Stalin Gulags, als dort 12 Millionen mehrheitlich politische Gefangene festgehalten wurden.

Doch hinter den gelegentlich bröckelnden Gefängnismauern gibt es auch heute noch Unterernährung, Krankheit und Gewalt unter den Insassen.

De Keyzer besuchte während seiner Mission 35 der etwa 130 noch bestehenden Lagern um Krasnojarsk in Sibirien – eine Gegend so gross wie Europa, wo die Temperaturen im Winter bis auf minus 65 Grad Celsius fallen können.

Lagerkategorien



Die Straflager unterteilen sich in drei Kategorien: Die meist in Städten angesiedelten Fabriklager, wo die Arbeit von Schwerindustrie bis zum Kunsthandwerk reicht; dann die abgelegeneren Dorflager, wo einige Inhaftierte mit ihren Familien zusammen sein können; und schliesslich – die härteste Form – die Lager in der Taiga, dem sibirischen Waldgürtel, die oft hunderte Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt sind.

De Keyzer erzählte im Gespräch mit swissinfo, dass die Erlaubnis zum Besuch einiger dieser Lager nur mit einer Kombination von Glück und monatelanger Hartnäckigkeit zu Stande kam: Am Anfang führten die Besuche in «Vorzeigelager», in die auch ausländischen Diplomaten und Journalisten Einblick gewährt wurde.

«Eigentlich war das erste Lager, das ich sah, eher etwas wie Disneyland: das Eingangstor mit Metallsoldaten ausgestattet, die von Gefangenen hergestellt wurden – an den Wänden riesige Gemälde. Es gab sogar noch eine hölzerne Windmühle und eine ägyptische Pyramide. Es war, als ob man am Eingang irgend eines billigen Vergnügungsparks stünde.»

Zu den Lager-Rundgängen organisierte De Keyzer auch einen Fotoworkshop, der gleichzeitig mit einer Ausstellung über die frühere Sowjetunion stattfand.

Ausdauer



Die Ausstellung weckte seine Neugier. Er wollte mehr sehen. Und das schaffte er dank seiner hartnäckigen Haltung gegenüber den offiziellen Behörden auch: Ein paar Monate später erteilte ihm der für regionale Haftanstalten zuständige General die Erlaubnis, weitere Lager zu inspizieren.

De Keyzer stiess dort auf Leute, die Strafen für Diebstahl oder Steuerhinterziehung, aber auch für schwere Verbrechen, absassen.

Einige Lager hatten Bibliotheken, Sportplätze und sogar eine Diskothek; den Insassen war es erlaubt, ohne Häftlingsuniform herumzugehen, und sie wurden nicht mehr zwingend kahl geschoren. Zu essen gab es etwa Fischkonserven und Brot.

Heutzutage halten sich in den Lagern keine politischen Häftlinge mehr auf, und die Gefangenen stammen in der Regel eher aus den umliegenden Gebieten als aus Städten wie Moskau oder St. Petersburg.

Selbstverständlich wurde Keyzer auf seinen Lager-Inspektionen «begleitet», und er verhehlt nicht, dass die Wirklichkeit dabei in einigen Fällen «geschönt» wurde.

Bizarres Tennisspiel



Als krasses Beispiel erwähnt er einen Tennisplatz, der ihm in einem Lager mit der Erklärung vorgeführt wurde, er sei für die Gefangenen.

«Sie suchten für ein Spiel zwei Gefangene aus und fanden schliesslich auch ein paar Rackets. Ich fragte nach Tennisbällen – aber solche waren keine vorhanden. So kam es zu dieser lächerlichen Szene, wo ich zwei Gefangene fotografiere, die so tun, als spielten sie Tennis ohne Ball. Es war eine verrückte Szene.»

De Keyzer zog es vor, das, was er sah, in Farbe auf Zelluloid zu bannen, statt in schwarz-weiss, weil letzteres seiner Ansicht nach der Vergangenheit angehört, während Farbe für das «Jetzt» steht.

Er räumt bereitwillig ein, dass das Militär versuchte, ihn für Propagandazwecke zu missbrauchen.

«Ich stiess auf keine Folterbeweise oder Leichen und so weiter. So spielte ich ihr Spiel und überzeichnete ihre Bemühungen, mir die «Schokoladenseite» der Lager vorzuführen. Das mag wirklichkeitsfremd erscheinen, aber es erlaubt den Betrachtenden, zwischen den Zeilen zu lesen und gründlich darüber nachzudenken, war er oder sie auf jedem Bild sieht.»

swissinfo, Richard Dawson
(Übersetzung aus dem Englischen: Monika Lüthi)

Die Ausstellung findet im Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Museum statt und dauert bis am 18. Juli.

Der belgische Fotograf Carl De Keyzer besuchte 35 der schätzungsweise 130 sibirischen Straflager um Krasnojarsk.

Die Lager sind in drei Kategorien unterteilt: Fabrik-, Dorf- und Wald-Lager.

Nach Aussage von De Keyzer gibt es keine politischen Häftlinge mehr.

Die Lage hat sich seit den Stalin Gulags erheblich verbessert.

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