Morbide Endzeitstimmung in Bruno Pellegrinos Roman «Stadt auf Zeit»
(Keystone-SDA) Was bleibt von einem Leben? Das fragt sich der Erzähler im Roman «Stadt auf Zeit» des Lausanner Autors Bruno Pellegrino. Er erzählt vom Besuch an einem Ort, dessen morbide Atmosphäre allmählich auf die Erzählung selbst übergreift.
Immer wieder durchdringt der Lärm der Sirenen die winterliche Luft. Seit der Erzähler Anfang Jahr in der Stadt angekommen ist, bedroht eine «aqua alta» nach der anderen nicht nur Plätze und Gassen, sondern auch die Häuser.
Er hat den Auftrag, im Nachlass einer renommierten Übersetzerin, die dement im Pflegeheim liegt, etwas Ordnung zu schaffen. In ihrem Haus trifft er auf ein Durcheinander, das wirkt, als ob erst kürzlich jemand schnell weggegangen sei. Die verkrustete, halb mit Tee gefüllte Tasse steht jedoch seit Monaten in der Seifenschale.
Überall verstreut findet der Erzähler ungeordnete Zettel, Notizhefte und Bücher, aber nichts davon ist persönlicher Natur, ausser ein paar zerknitterten Kassenbons. Während er die Papiere zu ordnen beginnt, beschleicht ihn mehr und mehr das Gefühl, sich selbst abhanden zu kommen. Das verlassene Haus, sein Zimmer im schäbigen Wohnheim, die stürmische Winterstimmung machen ihm zu schaffen. Die Stadt an der Lagune verwandelt sich für ihn in einen Ort des Verfalls und der Vergänglichkeit.
Auch wenn der Name nie fällt, ist Venedig hier gut erkennbar. Bruno Pellegrino nähert sich der Stadt allerdings auf untypische Weise von ihrer Rückseite her. Mit Sinn für Zwischentöne umgeht er die von Touristen frequentierten und in zahllosen Büchern besungenen Merkpunkte der Stadt, um hinter den Kulissen das von all den literarischen, historischen Mythen ausgelaugte Venedig zu zeigen. Durch die Ritzen dringt Wasser, in den Ecken setzt sich Moos an. Ein fauliger Geruch liegt über allem, und permanent warnen die schrillen Sirenen.
«Stadt auf Zeit» ist ein atmosphärisch stimmiges Stadtporträt, in dem nicht nur Venedig allmählich von der Feuchte aufgeweicht wird, sondern auch der Erzähler die Orientierung zu verlieren droht.»*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.