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Das Tessin lehrte Europa die Revolution

Ende Juli 1830 fand die zweite französische Revolution statt. Damals übernahm das Grossbürgertum die Führung im Königreich. Was aber oft vergessen geht: Die liberale Revolution von 1830 brach im Tessin aus.

Als man in Paris gegen das konservative Regime auf die Strasse ging, war dieses im Tessin schon einen Monat lang Geschichte. Die Liberalen dort hatten auf Kantonsebene bereits das Öffentlichkeitsprinzip der Politik durchgesetzt, ebenso die repräsentative Demokratie mit – von Männern – gewähltem Parlament und indirekt bestimmter Regierung.

Die mehrteilige Serie ist ganz auf unseren Autor zugeschnitten: Claude Longchamps vielseitige Expertise als Politikwissenschafter und Historiker macht ihn zu dem Mann, der Orte, an denen sich Wichtiges ereignet hatte, zum Sprechen bringt.

Longchamp hat als Gründer des Forschungsinstituts gfs.bern die Politikforschung in der Schweiz auf ein neues Level gehoben. Heute ist er der erfahrenste Politikanalyst der Schweiz. In Kombination mit der Geschichte bietet Longchamp schon länger als «Stadtwanderer» Rundgänge durch Bern und andere Schweizer Schauplätze an, die grossen Anklang finden. 

«Longchamp performt Demokratie», schrieb einmal ein Journalist zu einer «Stadtwanderung» durch Bern.

Longchamp ist auch leidenschaftlicher Blogger: In Zoonpoliticon Externer Linkschreibt er über politikwissenschaftliche Themen. Als «Stadtwanderer»Externer Link bringt er Orte zum Sprechen, die in der Entwicklung der Demokratie eine wichtige Rolle gespielt haben.

Er postet zudem regelmässige Beiträge auf FacebookExterner Link, Instagram Externer Linkund TwitterExterner Link.

Auch das Verfassungsreferendum und die Pressefreiheit waren etabliert. Es war der eigentliche Durchbruch zur Demokratie!

Treiber für die Tessiner Revolution war eine liberale Bewegung rund um den Lehrer Stefano Franscini. Dieser hatte in zahlreichen Publikationen zuvor die Rückständigkeit seines Kantons angeprangert und Verbesserungsvorschläge präsentiert.

Für seinen unermüdlichen Kampf wurde der liberale Revolutionär 1848 belohnt – mit einem Sitz im siebenköpfigen Bundesrat, so die Bezeichnung der Schweizer Regierung. Franscini kam also die Ehre des ersten Bundesrats aus der italienischsprachigen Schweiz zu.

Claude Longcham am Luganersee.
Claude Longchamp am Schiffshafen von Lugano, dem zweiten Demokratie-Brennpunkts unserer Serie. Die friedliche und idyllische Kulisse des Luganersees täuscht darüber hinweg, dass die Pionierrolle des Tessins bei der Einführung der Demokratie im 19. Jahrhundert von erbitterten Auseinandersetzungen begleitet war. swissinfo.ch / Carlo Pisani

Dank Franscini wurde das Tessin also der erste Schweizer Kanton mit einer liberalen Verfassung. Ab 1831 gab sich die Mehrzahl der Schweizer Kantone ebenfalls eine solche. Die Schweiz war zu jener Zeit noch ein Staatenbund mit 22 Kantonen, die sich untereinander noch nicht föderalistisch organisiert hatten. Das stand noch bevor.

Innerhalb der Kantone aber schaffte man die aristokratischen Regimes mit wenigen alteingesessenen Familien ab und kippte die Vorrechte der Städte über das Land. Widersprochen wurde dem in zehn Kantonen, darunter an allen Orten mit der traditionellen Landsgemeinde.

Das historische Lexikon der Schweiz nennt deshalb die Jahre 1830 und 1848 «Durchbrüche zur Demokratie». Der Prozess war nicht frei von Rückschlägen. In den Schweizer Kantonen hatten nun 20 bis 25% der Gesamtbevölkerung das Wahlrecht.

In Grossbritannien oder Frankreich lag der Wert damals noch bei weniger als zwei Prozent. Die Schweizer Kantone waren also europäische Pioniere bei der Etablierung von Parlamenten mit Volkswahlen.

Für den Bundesstaat ist es noch zu früh

Misslungen ist allerdings der Durchbruch zu einem überkantonalen, demokratischen Staat. Die Tagsatzung aller Kantone suchte aber bereits 1832 eine Verfassung für eine moderne Staatsform. Liberal, demokratisch und föderalistisch sollte diese sein.

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Der Genfer Jurist Pellegrino Rossi schlug den freien Personen- und Warenverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit zwischen den Kantonen vor. Zentralisiert werden sollten Zölle, Post, Währung, Masse und Gewichte. Faktisch war das ein Vorschlag für einen überkantonalen Binnenmarkt.

Institutionell sollte die Tagsatzung gemäss Pellegrino Rossi in ein Parlament umgewandelt werden, das nach dem freien Willen der männlichen Mehrheit ihre Mitglieder entscheiden sollte. Regieren sollte ein fünfköpfiger Bundesrat mit einem Landammann an der Spitze. Eingeführt werden sollte auch ein Bundesgericht.

Doch der Plan zur Staatsneugründung geriet zwischen Stuhl und Bank. Föderalisten und Zentralisten waren aus verschiedenen Gründen skeptisch, und im Endeffekt beide dagegen. Der Plan Rossi wurde beerdigt, als Luzern den Vorschlag, neue Hauptstadt zu werden, in einer kantonalen Volksabstimmung verwarf.

Prägende Ideologien

Geblieben sind aber elementare Ideologien, wie man sie heute noch erkennt.

Die Konservativen verteidigten die Staatsordnungen des Wiener Kongresses von 1815. Die geforderte Trennung von Kirche und Staat hiess für sie, die kirchlichen Bildungsinstitutionen vor Staatseingriffen zu schützen.

Ihnen standen die Radikalen mit ihrem laizistischen Volksstaat diametral gegenüber. Die staatliche Macht sollte immer vom Volk abgeleitet sein. Das Stimm- und Wahlrecht sollte für junge Menschen und Niedergelassene aus anderen Kantonen gelten.

Dazwischen waren die Liberalen. Sie betonten den Rechtsstaat und die individuelle Freiheit. Unternehmer sollten die Wirtschaft voranbringen. Gesellschaftliche Fortschritte erhofft man sich durch schulische Bildung.

Von 1648 bis 1798 war die Eidgenossenschaft ein lockerer Staatenbund mit 13 souveränen Orten, die von der Tagsatzung zusammengehalten wurden. Aussenpolitisch war man neutral.

Von 1798 bis 1803 bestand die Helvetische Republik als Einheitsstaat. 1803 ging man zu einem Bundesstaat mit 19 Kantone über.

1815 führte der Wiener Kongress der Staatenbund aus 22 Kantonen ein und neutralisierte die Schweizerische Eidgenossenschaft, die sich weder Österreich noch Frankreich anschliessen durfte.

1848 wurde der Bundesstaat gegründet, wie er letztlich heute noch gilt. Die Neutralität blieb. 

Die Weltanschauungen wirkten sich auf die Demokratievorstellungen aus:

Die Liberalen verstanden sich als Elite, die durch kantonale Wahlen bestätigt, aber nicht eingeengt werden dürfe.

Die Konservativen verlangten ein Gemeindeveto, um Eingriffe des Kantons in den Gemeinden einschränken zu könnten.

Die Radikalen setzten sich für ein Gesetzesreferendum zu allen Gesetzesvorlagen ein.

Claude Longchamp im Innenhof des Rathauses Lugano.
Claude Longchamp vor dem Innenhof des «Municipio», damals wie heute Rathaus der Stadt Lugano. swissinfo.ch / Carlo Pisani

St. Gallen konkretisierte das 1831 mit dem Instrument eines Vetos. Beschlüsse des Parlaments unterlagen der Zustimmung einer Kommission, die entscheiden durfte, was richtig sei – es war ein Vorläufer des heutigen Referendums. Ziel war, den Einfluss der katholischen Kirche zu wahren.

In der Waadt wurde 1845 umgekehrt das Recht des Volkes, seine Gesetze zu beschliessen, ernsthaft diskutiert – ein Vorläufer der Initiative.

Nicht nur die repräsentative Demokratie, auch die Volksrechte wie das Referendum und die Initiativen haben ihren Ursprung also in der liberalen, von den Kantonen geprägten Epoche.

Der Klosterstreit eskaliert

Es war die Klosterfrage, die wenig überraschend zu einem entscheidenden Streitpunkt in den jungen Demokratien wurde. Zahlreiche erneuerte Kantone verlangten 1834 die Aufhebung der Klöster. Die Tagsatzung versuchte das 1841 rückgängig zu machen.

Da eskalierte der politische Streit. Radikale versuchten mit einem paramilitärischen Zug junger Männer gegen Luzern, die dortige klerikale Regierung mit Gewalt zu beseitigen. Im zweiten Anlauf waren auch umstürzlerische Politiker und Offiziere dabei. Doch beide Anläufe scheiterten.

Nachdem ein geheim gehaltener Sonderbund der konservativen Kantone publik geworden war, ging Zürich in die Offensive und verlangte dessen militärische Auflösung. Eine hauchdünne liberal-radikale Mehrheit der Tagsatzung legitimierte den Bürgerkrieg.

Der letzte Bürgerkrieg in der Schweiz

Ab dem 4. November 1847 sprachen die Waffen. Eine eidgenössische Armee mit fast 100’000 Mann unter dem General Guillaume-Henri Dufour bedrohte die Zentren des katholisch-konservativen Widerstands. Freiburg kapitulierte, Luzern kämpfte.

Nach 25 Tagen und 150 Toten kapitulierten alle Sonderbundskantone. Alle Verfassungen der besiegten Kantone wurden im freisinnigen Sinne revidiert – der Weg zum Bundesstaat war frei.

Die drei konservativen Grossmächte Europas Österreich, Preussen und Russland sowie Frankreich unterstützten die konservativ-katholischen Kräfte des Sonderbundes politisch-diplomatisch und logistisch. Demgegenüber unterstützte Grossbritannien die progressiven Kräfte politisch-diplomatisch.

Konfliktregelung durch Proporzwahlrecht

Im Kanton Tessin, wo alles seinen Anfang genommen hatte, dauerten die leidenschaftlichen Kämpfe um die Demokratie bis in die 1890er-Jahre, also über ein halbes Jahrhundert.

Mehrere Regierungsstürze, einige Tote bei Wahlen und fünf Bundesinterventionen säumten den Weg zur stabilisierten Staatsform. Die entstand im Tessin erst nach 1891, als man erstmals in der Schweiz ein Proporz- oder Verhältniswahlrecht für Parlament und Regierung einführte.

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