Der Stoff, aus dem die Schweizer Sagen sind
Die alpine Landschaft und der ständige Zustrom von Kulturen und Ideen in die Schweiz brachten im Lauf der Jahrhunderte eine reiche Sagentradition hervor, bewohnt von Geistern, Teufeln, Hexen und Drachen.
Einer der berühmtesten Volkshelden der Schweiz ist Wilhelm Tell. Der Mann wurde gezwungen, seinem Sohn einen Apfel vom zu Kopf schiessen. Er hatte sich geweigert, sich vor dem Hut des Landvogts Gessler zu verneigen.
Seine und andere Sagengeschichten werden gegenwärtig in der Ausstellung «Traditionelle Sagen aus den Alpen» im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich vorgestellt.
In der Ausstellung werden verschiedene Versionen der Tellgeschichte gezeigt, zusammen mit einer Armbrust, wie er sie benutzt haben könnte.
Historische Sagen wie diese spielten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der nationalen Identität der Schweiz.
Tell, der tapfere Urner, ist nur eine von vielen Figuren in Schweizer Sagen. Diese alten mythischen Erzählungen spiegeln die Vielfalt der Schweiz wider, ihre Landschaften, Berge und Täler, Städte und Landschaften.
Im Video stellt Kuratorin Daniela Schwab einige der berühmtesten Sagen der Schweiz vor.
Eine Sage in der Ausstellung erzählt von der Teufelsbrücke, welche die Schöllenenschlucht im Reusstal im Kanton Uri überspannt. Die Legende besagt, dass der Bau der Brücke so schwierig war, dass die verzweifelten Dorfbewohner den Teufel um Hilfe baten. Er forderte im Gegenzug die Seele desjenigen, der die Brücke als Erster überquerte.
Ein schlauer Bauer trickste den Teufel aus, indem er zuerst einen Ziegenbock über die Brücke schickte. In einer anderen Version soll es ein Hund gewesen sein. Ob Ziege oder Hund, vor Wut soll sich der Teufel mit dem Tier in den Fluss gestürzt haben.
Es wird erzählt, dass Ende Oktober ein weisser Maremma-Schäferhund nachts immer noch über die Brücke läuft und dass es der Teufel ist, der immer noch nach der Seele desjenigen sucht, der ihn ausgetrickst hat.
Böses bestrafen
In den Sagen ist nicht nur vom Bösen die Rede, das es zu überwinden gilt, sondern auch von Verhaltensweisen, die korrigiert werden müssen. Oft mit drastischen Strafen.
«Die Legenden sollten den Menschen zeigen, dass es harte Konsequenzen hat, wenn sie vom Weg des normalen Verhaltens abweichen», sagt Kuratorin Schwab.
So lebt zum Beispiel in der Geschichte von der Blümlisalp ein egoistischer Hirte auf seiner fruchtbaren Alp im Überfluss, während die Menschen im Tal darunter hungern. Er weigert sich zu teilen, was er hat, und verachtet die Verzweifelten im Tal. Zur Strafe verwandelt sich die blühende Alp in eine Einöde aus Felsen und Eis.
Auch Hexen haben in dieser Ausstellung einen grossen Auftritt, vielleicht weil die Schweiz den Rekord in Sachen Hexenverfolgung hält. Da gibt es etwa die Geschichte der Hexe von Belalp zu entdecken, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sein soll. Manche sagen, sie sei dazu verurteilt worden, weil sie ihren Mann mit einem Zauberer betrogen habe.
In der französischsprachigen Schweiz wurden rund 3500 Menschen als Hexen hingerichtet – mehr als irgendwo sonst in Europa pro Kopf der Bevölkerung. Es musste immer jemand gefunden werden, um für Katastrophen oder Epidemien den Kopf hinzuhalten.
Und wie Schwab im Video betont, gab es für Verdächtige kein Entkommen: Sie wurden so lange gefoltert, bis sie schliesslich «gestanden» hatten. Und dann wurden sie hingerichtet.
Sagen werden lebendig gehalten
Die Schweizerinnen und Schweizer tragen keine Zaubersprüche und Waffen mehr bei sich, um etwa das «Toggeli» abzuwehren, das sie in ihren Träumen heimsuchte. Aber sie scheinen darauf bedacht zu sein, die Sagen am Leben zu erhalten: an vielen Volksfesten, die den gesellschaftlichen Kalender füllen.
So wird zum Beispiel der Hexe von Belalp mit einem einzigartigen jährlichen Skirennen gedacht, bei dem die Teilnehmenden als Hexen verkleidet die Hänge von Belap im Kanton Wallis hinunterrasen. Es gibt auch viele laute Umzüge, um die Geister des Winters zu vertreiben, wie etwa die «Silvesterchläuse» im Appenzellerland.
In Interlaken im Berner Oberland wird der Sieg des Lichts über die Dunkelheit der Nacht mit der «Harder-Potschete» gefeiert. Dabei marschieren Maskierte, die den Totenkult repräsentieren, durch die Strassen von Interlaken, um dem Publikum Angst und Schrecken einzujagen.
Jedes Jahr am gleichen Tag im April wird in Zürich ein Schneemann, der «Böögg», feierlich angezündet. Welcher Sommer uns bevorsteht, hängt angeblich davon ab, wie lange es dauert, bis der mit Sprengstoff gefüllte Kopf des «Böögg» explodiert.
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Der explosive Schneemann
Die Sagen leben auch in Theaterstücken, Filmen und Fernsehserien weiter, die sich mit ihnen befassen. Wie die Alpensage «Sennentuntschi», die Michael Steiner 2010 unter diesem Titel verfilmte.
1940 produzierte Hollywood einen Zeichentrickfilm mit dem Titel «Popeye trifft Wilhelm Tell», in dem Popeye den Sohn spielt und sich eine Dose Spinat vom Kopf schiessen lässt. Die Legende wurde auch in einer britischen Fernsehserie von 1958 mit Conrad Phillips in der Rolle des Tell und in einem Hollywood-Film von 1960 dramatisiert.
Die Schweizerinnen und Schweizer waren schon immer von Dingen fasziniert, die in der Nacht geschehen. An jenem Tag, an dem ich das Schweizerische Nationalmuseum besuchte, lauschten die Kinder gebannt den verschiedenen Geschichten. Die erzieherische Rolle der Sagen mag abgenommen haben, aber ihr langfristiges Überleben scheint garantiert.
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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«Das Kind als ‹Heilsbringer› ist ein sehr beliebtes Sujet»
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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