Nestlé «hausiert» in den Favelas
In Brasilien lanciert das Unternehmen aus Vevey die Eroberung des Markts für bescheidene Einkommen – mit erstaunlichen Initiativen.
Gegen 150 Verkäufer, rekrutiert in den Armenvierteln von São Paulo, haben letztes Jahr einen Umsatz von 1,3 Mio. Dollar erzielt.
Wenn Nestlé sich nun vermehrt den Armen zuwendet, dann geschieht dies weniger aus Mitleid, sondern vielmehr aus dem Bestreben, sie zu mehr Konsum anzuregen.
Um dies zu erreichen, hat die brasilianische Filiale des Schweizer Nahrungsmittel-Multis eine grosse Recherchearbeit geleistet, um die Konsumations-Gewohnheiten dieses grossen potentiellen Kundensegments zu erforschen.
Resultat ist eine der sozialen Realität des Landes angepasste Strategie. Denn lange Zeit hatten die Hersteller von Verbrauchsgütern die Bevölkerung mit tiefen Einkommen und die Armen zu wenig beachtet.
Erfahrungen in Paraísopolis
Nicht nur die Bewohner der reicheren Gebieten, sondern auch die Menschen in den Favelas, den Armenvierteln, sind ganz versessen auf von der Massenwerbung aufgewertete Produkte.
In Paraísopolis (Paradies-Stadt), einer Favela von São Paulo, hat Nestlé begonnen, direkt an der Haustür Eis oder Joghurt an jene Leute zu verkaufen, die weder zum Supermarkt noch in den Laden an der Ecke gehen.
So sind aus dem Gebiet rund 150 Verkäufer rekrutiert worden. Diese haben im letzten Jahr einen Umsatz von 1,3 Mio. Dollar erreicht.
«Es wäre uns unmöglich, ein solches Dispositiv mit unseren bisherigen Mitteln bereitzustellen», sagt Ivan Zurita, Präsident der brasilianischen Nestlé-Niederlassung.
Indem sie sich auf die lokale Gemeinschaft stützt, kann Nestlé auch die neuen Käuferschichten ansprechen, die, je nachdem wie sich das Land entwickelt, nicht für immer arm sein werden.
Ein Geburtstagsgeschenk
In diesen Quartieren kann eine simple Büchse Kondensmilch schon ein schönes Geburtstagsgeschenk sein. Im Wissen darum hat Nestlé eine spezielle Verpackung kreiert. So erweisen sich Informationen, die man dank dem direkten Kontakt mit den Konsumenten auswerten konnte, als sehr wertvoll.
Gemäss Nestlé beträgt der Konsum der Haushalte mit geringem Einkommen rund 70% des Nahrungsmittelmarktes in Brasilien. «Mit unserem traditionellen Geschäftsmodell wäre es nicht möglich, diese Kreise zu erreichen», erklärt Ivan Zurita.
Zuerst kommt Rio, dann der Nordwesten
«Man muss sich bemühen, ihr Verbraucherprofil herauszufinden, ihre Art ihre Budgets zu verwalten. Man muss das Konzept der erweiterten Familie begreifen, mehrere Generationen, die unter einem Dach leben. Selbst wenn sie keinen Zugang zu Krediten haben und nur über sehr begrenzte Verkehrsmittel verfügen, gibt es Hinweise darauf, dass sie den Konsum mögen und sie wunderbare Konsumsehnsüchte haben.»
Das Modell wird demnächst auf Rio de Janeiro ausgedehnt, dann auf den Nordwesten, eine sehr stark bevölkerte Region, die aber unter den ärmsten Brasiliens rangiert.
Es werden dort sogar eine Fabrik und ein Verteilungszentrum eingerichtet, um den lokalen Anforderungen besser gerecht zu werden. Jedoch auch um Kosten zu sparen und Zugang zur grösstmöglichen Anzahl Verbraucher zu haben.
Nestlé-Führungskräfte zitieren gerne das Beispiel eines ehemaligen Kokainhändlers, der heute Eisverkäufer ist.
Denn für Ivan Zurita beschränkt sich die soziale Integration nicht auf Wohltätigkeit. Die Favela-Bewohner benötigten besonders Arbeitsplätze um zu überleben. «Ich glaube nicht an die Zukunft der Nahrungsmittelunternehmen, wenn man die Armut nicht eliminiert», erklärt Iwan Zurita.
swissinfo, Thierry Ogier in São Paulo
(Übertragung aus dem Französischen: Etienne Strebel)
Der 53-jährige Iwan Zurita präsidiert Nestlé Brasilien seit 2001, nachdem er die Niederlassung in Mexiko geführt hatte.
Insgesamt lebte er 17 Jahre ausserhalb seines Heimatlandes, in Chile, Argentinien und Zentralamerika.
In seiner Freizeit produziert er Cachaça , einen Zuckerrohr-Schnaps, ist Pferdeliebhaber und nimmt an Vieh-Auktionen teil.
Nestlé hat 1921 mit der Herstellung von Milchprodukten in Brasilien begonnen. Der lösliche Kaffee folgte 1953 und 1959 die Schokolade.
Heute betreibt die brasilianische Niederlassung des Schweizer Nahrungsmultis 26 Fabriken, die Kaffee, Milchprodukte, Schokolade, Kekse, Glacé, Getränke, Kindernahrung und Haustierfutter produzieren.
Nestlé Brasilien beschäftigt 16’000 Personen und hat 2005 einen Umsatz von 11,5 Mrd. Reals, umgerechnet 6,8 Mrd. Franken, erzielt.
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