Tamara Funiciello, Provokation im Dienst der Gleichstellung
Gewerkschafterin, Feministin, Provokateurin: Tamara Funiciello, die Ex-Präsidentin der "Jungsozialist*innen" (Juso), schaffte einen fulminanten Einzug ins Parlament. Das Gesicht des Frauenstreiks vom 14. Juni 2019 wurde gewählt, während zwei der bisherigen SP-Nationalräte auf der Strecke blieben. Die Berner Studentin will sich weiterhin energisch für Frauen und Arbeiter einsetzen. Ein Porträt.
Im Oktober letzten Jahres haben die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger das bisher weiblichste Parlament der Geschichte gewählt. Obwohl die Parität noch nicht erreicht ist, haben Politikerinnen nun 42% der Sitze im Nationalrat. Aus diesem Anlass porträtiert SWI swissinfo.ch acht neu gewählte Frauen aus verschiedenen Parteien.
Tamara Funiciellos violetter Schal, ein Symbol des Frauenstreiks vom 14. Juni 2019, kontrastiert mit dem Industriedekor der ehemaligen Druckmaschinen-Fabrik Wifag in der Stadt Bern. Die 29 Jahre alte neugewählte Nationalrätin der Sozialdemokratischen Partei (SP) zeigt die Farbe ihres feministischen Kampfes.
Es gab eine Zeit, in der mehr als 1000 Arbeiter jeden Tag hierher kamen und diesen Ort mit Leben füllten. Es war das goldene Zeitalter des Druckens. Heute, im strömenden Regen, herrscht in der Fabrik neben den Bahngleisen Stille; und nur der Abdruck der abmontierten Leuchtschrift-Buchstaben WIFAG an der Gebäudefassade erinnert noch an die Fabrik.
2011 schloss die letzte Rotationsmaschinenfabrik des Landes ihre Tore. Remigio Funiciello, der Vater der jungen Politikerin, und Hunderte von weiteren Arbeitern verloren ihre Stelle. Ein harter Schlag für die Familie, deren Geschichte seit Jahren mit dem Unternehmen verbunden war.
«Ich habe erfahren, was es für einen Familienvater bedeutet, wenn er seinen Arbeitsplatz verliert», erklärt Funiciello. Diese Episode markiert ihr politisches Engagement wie ein Brandzeichen. 2013 wurde sie Gewerkschafssekretärin bei der Unia. «Ich bin in erster Linie Gewerkschafterin. Der Einsatz zur Verteidigung von Arbeiterinnen und Arbeitern ist für mich ein zentraler Kampf», unterstreicht sie.
Ihr Programm in dem Bereich fällt auf: «Wir müssen die Arbeitszeit reduzieren. Das ist der Schlüssel für die kommenden Jahre.» Die Geschichtsstudentin schlägt 25 Arbeitsstunden pro Woche vor, damit angesichts der Robotisierung «alle eine Stelle haben können».
«Wir können nicht weiterhin so lange arbeiten. Das ist für niemanden gut, nicht für die Frauen, nicht für die Männer, nicht für die Umwelt, und nicht einmal für die Wirtschaft», sagt sie. Es ist eine Idee, die in ihrer eigenen Partei umstritten ist. Nationalrat Roger Nordmann, der Fraktionschef der Sozialdemokratischen Partei im eidgenössischen Parlament, hatte sie als «katastrophal» bezeichnet.
Das gewerkschaftliche Engagement von Funiciello ist eng verbunden mit dem Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter. «Das Thema der Frauen, die pro Jahr noch immer 108 Milliarden Franken weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen, müsste noch stärker in die DNA der Gewerkschaften einfliessen», beklagt sie.
Auch die unbezahlte Arbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird, sollte ihrer Ansicht nach ein Schwerpunkt sein. «Diese Arbeit entspricht einem Geldwert von 242 Milliarden Franken, das ist ein Drittel des BIP. Das müssen wir berücksichtigen.»
«Wir können nicht weiterhin so lange arbeiten. Das ist für niemanden gut, nicht für die Frauen, nicht für die Männer, nicht für die Umwelt, und nicht einmal für die Wirtschaft.»
Tamara Funiciello
Die Italianità
Wenn Funiciello empört ist, taucht ab und zu ein Wort in Italienisch auf. Die Klänge des Südens, die ihre Kindheit prägten. Vor einem Cappuccino in einer kleinen italienischen Bar in der Nähe des Bundeshauses spricht sie über den Migrationsparcours ihrer Familie.
In den 1970er-Jahren verlässt ihr Vater die Region von Neapel, um als Saisonnier in der Schweiz zu arbeiten, wo er später eine Bernerin heiratet. 1990 kommt Tamara zur Welt, 1992 ihr Bruder. Drei Jahre später beschliesst die Familie, sich unter der Sonne Sardiniens niederzulassen, wo Remigio Funiciello als Schuhmacher arbeitet.
Mit der Umstellung auf den Euro wird die Situation jedoch in finanzieller Hinsicht schwierig, und die Familie muss sich entscheiden, nach Bern zurückzukehren. Aufgrund dieser Erfahrung wurde Funiciello bewusst, dass die Bestrebungen der Bürgerinnen und Bürger überall die gleichen sind: «Ihre Bedürfnisse zu erfüllen und ein freies Leben zu führen.»
In den Zaubertrank der Politik gefallen
Funiciello ist eine empörte Person, die mit der Politik gross geworden ist. Ihre Eltern waren immer politisch engagiert, vor allem in den Protestbewegungen der 1980er-Jahre rund um das autonome Berner Kulturzentrum Reitschule. «Ich habe eine Sensibilität dafür entwickelt, was gerecht und was ungerecht ist», erklärt sie.
Der Wunsch, gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen, hat sie an die Spitze der Juso geführt, die sie von 2016 bis 2019 als erste Frau leitete. Die Jungpartei ist für ihren Hang zur Provokation bekannt; ein Stil, der gut zu ihrer ehemaligen Präsidentin passt.
«Es war Liebe auf den ersten Blick zwischen mir und der Juso», scherzt die Parlamentarierin. So sah man sie etwa, wie sie ihren Büstenhalter verbrannte und oben ohne posierte, um das öffentliche Bewusstsein für die Sache der Frau zu schärfen, oder wie sie einen Protest vor der Villa der rechtskonservativen Abgeordneten Magdalena Martullo-Blocher organisierte, oder Vibratoren verteilte, um auf die Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau aufmerksam zu machen.
«Die meistgehasste Frau der Schweiz»
Ihr provozierender Stil, den Funiciello lieber als «klar» bezeichnet, löste wahre Wellen von Hasstiraden aus. Von einer Deutschschweizer Tageszeitung wurde sie als «meistgehasste Frau der Schweiz» bezeichnet und sah sich regelmässig ernsthaften Drohungen ausgesetzt, vor allem Aufrufen zu Vergewaltigungen.
«Die Zahl war viel grösser und die Gewalt viel ausgeprägter, als bei den Drohungen, die meine männlichen Vorgänger erhalten hatten», erklärt sie. Doch die Politikerin lässt sich von dem Hass nicht beeinflussen: Wenn nötig, reicht sie Klage ein, und vor allem redet sie darüber. «Ich habe den Eindruck, dass es mir damit gelungen ist, die Leute auf das Problem aufmerksam zu machen», erklärt sie.
Im rechten politischen Lager verschont man sie nicht. Die junge SVP (Schweizerische Volkspartei, rechtskonservativ) ging soweit, sie als «fette Kuh» zu bezeichnen, und ein SVP-Abgeordneter nannte sie ein «Michelin-Männchen».
«Es sind immer die Frauen, die warten müssen. Man muss nicht warten, wenn wir von der Armee oder der Wirtschaft sprechen; aber wenn es um uns geht, heisst es immer warten. Ich warte nicht mehr. Und wenn das bedeutet, radikal zu sein, dann bin ich radikal.»
Tamara Funiciello
Funiciello sorgt aber auch im eigenen politischen Lager für Irritationen. Und das aus gutem Grund! Die Ex-Chefin der Juso hatte nicht gezögert, sich von der Mutterpartei zu distanzieren. So kämpfte sie 2017 gegen den Rat der SP-Geschäftsleitung gegen die Reform der Altersvorsorge.
Nachdem die Reform an der Urne abgelehnt worden war, sprach SP-Präsident Christian Levrat bei einer Delegiertenversammlung in dem Zusammenhang vom «Eigengoal des Jahrhunderts». SP-Nationalrat Roger Nordmann warf ihr vor, dass sie «ideologisch verblendet» sei, und sagte, sie habe eine Verantwortung, die sie nicht ernst genommen habe.
«Ich werde mit dem Alter radikaler»
«Es gehört zur Rolle der Juso, die Diskussion auszuweiten», verteidigt sich die Bernerin, welche die Jugendpartei der SP als «Dorn im Auge» der Mutterpartei versteht. Auf jeden Fall war die Juso unter ihrer Leitung eine wirksame politische Maschine, die eine VolksinitiativeExterner Link zustande brachte, die das reichste Prozent der Schweizer Bevölkerung stärker besteuern will. «Das ist einer meiner grössten Erfolge an der Spitze der Partei», erklärt die neue Nationalrätin.
Wird sie unter der Bundeshauskuppel die Provokation gegen den Geist des Konsenses eintauschen? «Ich werde mit dem Alter radikaler, nicht ruhiger», hatte sie bei ihrem Rücktritt von ihrem Amt als Juso-Chefin gegenüber dem Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS) erklärt. Auch wenn sie kein Blatt vor den Mund nimmt, hat Funiciello Verantwortungsbewusstsein. Ihre Sporen hat sie sich im Parlament des Kantons Bern verdient: «Ich weiss, wie ein Parlament arbeitet. Ich habe während den Sitzungen des Grossrats keine Büstenhalter verbrannt.»
Coming out
Im Juni vergangenen Jahres nutzte Funiciello ein langes Interview mit der deutschsprachigen Wochenbeilage «Das Magazin» dazu, sich als bisexuell zu outen. Sie lebt heute mit einer Frau. «Wir haben uns nie versteckt, aber es war mir wichtig, öffentlich über meine sexuelle Orientierung zu sprechen, denn die Debatte über die Ehe für alle sollte nicht ohne eine Frau im Parlament stattfinden, die dazu steht, Frauen zu lieben», erklärt sie.
Bei dem Dossier, mit dem sich die Abgeordneten 2020 befassen werden, wird sie dafür kämpfen, dass weibliche Paare entgegen dem aktuellen Entwurf Zugang zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung (muF) haben werden. «Ohne die muF ist es keine Ehe für alle», sagt sie.
Von einer Politik der kleinen Schritte will sie nichts wissen. «Es braucht keine grossen Anstrengungen, damit alle als gleichberechtigt gelten.» Funiciello hat den Eindruck, dass die Abgeordneten kein Recht auf muF für lesbische Paare wollen, weil es dabei um eine Frage von Frauenrechten geht.
«Es sind immer die Frauen, die warten müssen. Man muss nicht warten, wenn wir von der Armee oder der Wirtschaft sprechen; aber wenn es um uns geht, heisst es immer warten. Ich warte nicht mehr. Und wenn das bedeutet, radikal zu sein, dann bin ich radikal», sagt sie.
Gegen die elektronische Stimmabgabe
Tamara Funiciello neigt dazu, Themen eher im Licht des Klassenkonflikts als durch das Prisma der Generationen zu betrachten. Allerdings ist sie der Meinung, dass junge Politiker und Politikerinnen viel vorsichtiger sind, wenn es um die Weitergabe ihrer Daten geht. Aus Sicherheitsgründen ist sie vorerst gegen E-Voting. «Ein Hackerproblem würde das Vertrauen in unser politisches System und die Demokratie zerstören», warnt sie. Um allen Auslandschweizern und -schweizerinnen die Ausübung ihrer Bürgerrechte zu ermöglichen, brauche es eine andere Lösung.
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(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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