«Wir erleben eine Diktatur der asozialen Medien»
Das Grafikmuseum m.a.x. in Chiasso widmet dem italienischen Starfotografen Oliviero Toscani (75) eine persönliche Ausstellung. Im Interview äussert er sich über seine Ausbildung in Zürich, sein Werk, den Vorwurf der Provokation und sein ziviles Engagement.
swissinfo: Sie haben sich bisher stets gegen persönlichen Ausstellungen gesträubt. Wieso ist es in Chiasso dazu gekommen?
Oliviero Toscani: Persönliche Ausstellungen und Retrospektiven sind eigentlich etwas für Verstorbene. Deswegen halte ich nicht viel davon…
swissinfo: … und doch haben Sie am Ende zugesagt. Warum?
O.T: Die Direktorin des m.a.x Museum in Chiasso, Nicoletta Cavadini, hat so lange insistiert, bis ich schliesslich eingebrochen bin, damit sie nicht weiter insistiert. Ganz abgesehen davon: Das Museum in Chiasso erscheint mir in seiner Modernität einfach der richtige Ort. Der historische Palazzo Reale in Mailand wäre nicht geeignet gewesen.
swissinfo: Der Titel der Ausstellung in Chiasso lautet «immaginare», also «vorstellen». Wieviel Vorstellungkraft gibt es in unserer heutigen Welt?
O.T.: Leider immer weniger. Alles, was wir heute an technologischen Gerätschaften mit I-Pods und I-Pads ums uns haben, hilft nicht unbedingt, die Vorstellungkraft anzuregen. Wir werden immer abhängiger von den Gedanken und Ideen anderer. Man schaue sich nur an, was auf den so genannten sozialen Medien abläuft.
swissinfo: Sie sprechen von Facebook und ähnlichen Netzwerken.
O.T: Ja, genau. Wir erleben eine Diktatur dieser so genannten sozialen Medien, die alles andere als sozial sind. Ich spreche lieber von a-sozialen Medien.
swissinfo: In der Ausstellung von Chiasso sehen wir Schwarz-Weiss-Fotografien, die Anfang der 1960er Jahre während ihr Studienzeit an der Kunstgewerbeschule in Zürich entstanden sind. Was bedeuten Ihnen diese Fotos?
O.T: Diese Fotos sind wichtig, weil sie in einer historischen Epoche entstanden, als sich die Welt tiefgreifend änderte. Die Beatles und Bob Dylan kamen auf. Wir waren uns bewusst, dass sich die Welt änderte.
swissinfo: Und gefiel Ihnen die Kunstgewerbeschule in Zürich damals?
O.T: Die Schule in Zürich war einfach fantastisch. Es war für mich wie eine Erlösung nach dem Gymnasium in Italien, das ich zutiefst hasste. Ehrlich gesagt: In Italien war ich mehr im Kino als in der Schule. Die Schule war reiner Zeitverlust. Ohne Zürich wäre ich nicht zu dem geworden, was ich bin.
swissinfo: In unserer heutigen Welt sind Bilder und Fotografien allgegenwärtig. Überall und ständig wird fotografiert. Stört sie das?
O.T: Überhaupt nicht. Denn die Tatsache, dass viele Leute ständig Fotos machen, bedeutet nicht, dass es viele Fotografen gibt. Maler wie Goya oder Raffael hätten sich ja wohl kaum daran gestört, dass auch andere Leute einen Pinsel in die Hand nehmen und in Farbe tunken. Und fast alle Menschen können schreiben, was auch gut ist. Aber herausragende Schriftsteller gibt es eben nur ganz wenige. Das ist der Unterschied.
swissinfo: Und was sagen Sie zur Mode der Selfies und Selfie-Sticks?
O.T: Für mich ist es kein Problem. Man muss immer die Vorteile sehen. All die Leute, die früher auf Mauern Sprüche wie «Giovanni liebt Monica» geschrieben haben und so Kunstdenkmäler zerstörten, machen heute Selfies und sind zufrieden. Es gibt keinen Schaden für die Öffentlichkeit.
swissinfo: In der Ausstellung von Chiasso taucht der Besucher in drei riesige Boxen ein, in der rund 20’000 Bilder von Ihnen wie ein Blitzgewitter in atemberaubender Geschwindigkeit auf allen Seiten vorbeirattern. Ist das nicht zu schnell, um eine Fotografie überhaupt betrachten zu können?
O.T: Nein, nein, für meinen Geschmack geht es immer noch viel zu langsam. Meine Fotografien dürfen keine Kunstfotografien der Kontemplation werden, die in Galerien eingesperrt sind. Es ist keine klassische Fotoausstellung, sondern eine Ausstellung über ein Stück Geschichte. Denn diese Fotografien sind doch allen bekannt. Es ist die Geschichte meines Lebens und meiner harten Arbeit, mit der ich meine Familie ernährt habe.
swissinfo: Sie sehen Ihre Bilder nicht als Kunstbilder?
O.T: Ich sage etwas anders: Meine Kunstwerke waren immer öffentlich. Die Leute kennen meine Bilder, weil sie in der ganzen Welt öffentlich gezeigt wurden und an Plakatwänden hingen, und nicht, weil sie in irgendwelchen Galerien ausgestellt wurden und dort verkauft wurden. Kunst musst öffentlich sein. Das ist der Unterschied. Kunstgalerien sind etwas für einige wenige Eingeweihte, eine Art Selbstbefriedigung für Intellektuelle. Das interessiert mich nicht.
swissinfo: Ihre öffentlich gezeigten Fotos haben immer wieder zu harschen Reaktionen geführt. War das schockierende Foto Ihr Leitmotiv?
O.T: Das schockierende Foto gibt es gar nicht. Und umgekehrt können wir auch mit positiven Dingen wie Liebe und Frieden provozieren. Ich habe eigentlich mit meinen Bildern immer nur Probleme antizipiert, lange bevor sie in den Zeitungsredaktionen zum Thema wurden. Denken wir etwa an das Bild mit dem überfüllten Flüchtlingsbootes. Das ist eben die Arbeit eines Künstlers, etwas zu antizipieren.
swissinfo: Sie haben mit Ihren «Katatrophenbildern» schockiert, aber auch gleichzeitig Kasse gemacht, weil diese für Werbung von bekannten Modehäuser wie Benetton eingesetzt wurden. Ist das nicht ein Widerspruch?
O.T: Absolut nicht. Es ist nur ein Widerspruch, wenn man von einer geheuchelten Moral ausgeht. Wir sind alle Teil eines Marktes. Selbst die sixtinische Kapelle ist Teil eines Marktes, nämlich des Marktes der Religionen. Michelangelo hat mit seinen Gemälden für die katholische Kirche gearbeitet. Die seriösen Journalisten glauben wiederum, Teil eines Wahrhaftigkeitsmarktes zu sein. Aber es gibt letzten Endes nur einen Markt, den Konsummarkt. Er ist alles. Die Zeitung muss verkauft werden wie eine Tüte Chips.
swissinfo: Bereuen Sie, bestimmte Dinge in Ihrer Karriere gemacht oder nicht gemacht zu haben?
O.T: Ich bereue gar nichts. Vielleicht einzig, nicht noch extremer gewesen zu sein. Die Gewalt oder der Schock des Fotos existiert nicht. Man ist schockiert von dem, was das Bild repräsentiert. Und das Bild repräsentiert eine Realität. Das heisst: Wenn jemand das Bild nicht sehen will, will er die Realität nicht sehen. Deswegen schauen viele weg. Denken wir nur an die Tausende von Kindern, die weltweit jeden Tag an heilbaren Krankheiten sterben. Wir sind noch kein ziviles Volk.
swissinfo: Tatsächlich ist ihr ziviles Engagement gegen Krieg oder gegen die Todesstrafe und für die Menschenrechte bekannt. Heute scheint man von einer friedlichen Welt weiter entfernt denn je. Frustriert Sie das manchmal?
O.T: Das ist doch alles nicht wahr. Es gibt Kriege und Unfrieden, Hunger und Unterdrückung. Aber eines Tages werden alle diese Schlachten gewonnen sein, genauso wie wir die Sklaverei überwunden haben. Europa ist ein gutes Beispiel: Vor 80 Jahren gab es noch Rassengesetze und die Juden wurden in Massen vernichtet. Das ist heute nicht mehr vorstellbar. In einigen deutschsprachigen Ländern wie Österreich gibt es Revanchisten. Aber die Welt geht nicht in diese Richtung.
swissinfo: Im Ausstellungskatalog werden Sie als Atheist mit starker Spiritualität bezeichnet. Erkennen Sie sich in dieser Definition wieder?
O.T: Ich empfinde diese Definition als Kompliment. Das hat mich gerührt. Und ja: Es trifft wohl den Kern der Sache.
Oliviero ToscaniExterner Link wurde am 28.Februar 1942 in Mailand geboren. Er ist der Sohn von Fedele Toscani, einem Pionier des italienischen Fotojournalismus, der für den «Corriere della Sera» tätig war.
International bekannt geworden ist Oliviero Toscani insbesondere durch die Benetton-Kampagnen zwischen 1982 und 2000. Nach einer Kampagne gegen die Todesstrafe in den USA beendete er seine Zusammenarbeit mit Benetton, nachdem sich Benetton-Mitbegründer Luciano Benetton öffentlich von ihm distanziert hatte.
1990 gründete er «Colors» http://www.colorsmagazine.com/ , eine internationale Vierteljahreszeitschrift für Fotografie. 1993 gründete er nahe Treviso das Forschungszentrum für Kommunikation «Fabrik» http://www.fabrica.it/ in einer vom japanischen Architekten Tadao Ando umgebauten Palladio-Villa. Er lebt mit seiner Familie auf dem toskanischen Landgut Campigallo. Neben Weinbau und Olivenölproduktion betreibt er auch eine Pferdezucht.
swissinfo: Sie leben seit einiger Zeit in der Toskana auf einem eigenen Gut mit Weinanbau und Olivenölproduktion. Sind Sie Biobauer geworden?
O.T: Nein. Den Wein machen andere, genauso wie das Olivenöl. Ich bin immer noch Fotograf, besser gesagt ein Autor, der über ein Bild eine Story erzählt.
swissinfo: Sie sind in dritter Ehe verheiratet, haben sechs Kinder und 14 Enkel. Wie wichtig ist die Familie für Sie?
O.T: Das ist schon sehr wichtig. Man kann auch als Single leben. Aber der Unterschied ist wie ein Leben in schwarz-weiss und in Farbe. Persönlich bin vor allem froh, dass alle Kinder und Enkel wohlauf sind. Mir ist es fast peinlich dies zu sagen, aber ich habe im Leben bisher sehr viel Glück gehabt.
swissinfo: Ihr wichtiges Projekt für die Zukunft?
O.T: Weiterhin mit Enthusiasmus leben zu können.
Ausstellung «Immaginare» Das m.a.x. museo in Chiasso zeigt unter dem Titel „Immaginare“ eine Ausstellung über das Gesamtwerk des international bekannten italienischen Fotografen Oliviero Toscani. Ein besonderer Blickfang sind Bilder aus seiner Ausbildungszeit an der Kunstgewerbeschule in Zürich, die noch nie öffentlich zu sehen waren.
Oliviero Toscani zeichnet sich durch Kreativität und Visionen aus; ständig auf der Suche nach neuen Ausdrucksweisen. Er überschreitet Grenzen und provoziert, entdeckt den Wert des Andersseins und kämpft für die Freiheit in Kommunikation und Werbung. Die Bilder haben stets Diskussionen zu den Grenzen der Fotografie ausgelöst.
“Immaginare”, 10. Oktober. 2017 bis 21. Januar 2018, m.a.x. museo, Via Dante Alighieri 6 , 6830 Chiasso, Öffnungszeiten: Di-So, 10-12, 14-18, Tel.: +41 91 695 08 88, www.centroculturalechiasso.ch
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