«Das Recht auf Selbstbestimmung wird nicht verletzt»
Die Schweiz hat eine tiefere Organspende-Rate als andere europäische Länder. Der Westschweizer Spitaldirektor Philippe Eckert ist überzeugt, dass das neue Gesetz Familien helfen würde, eine Entscheidung zu treffen.
In der Schweiz fehlen Spendeorgane. Rund 1500 Menschen warten aktuell auf eine Organtransplantation, und die Liste wird immer länger. Um den Mangel zu beheben, stimmen die Schweizer:innen im In- und Ausland am 15. Mai über eine Änderung des Transplantationsgesetzes ab.
Derzeit ist eine Organentnahme nur möglich, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten ihre Zustimmung gegeben hat. Parlament und Bundesrat möchten nun zu einem System der mutmasslichen Zustimmung übergehen: Jede Person, die ihre Organe nicht spenden will, muss dies zu Lebzeiten mitteilen.
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Organspende: Worüber die Schweiz am 15. Mai abstimmt
Philippe Eckert, Generaldirektor des Lausanner Universitätsspitals CHUV, hat viel Erfahrung in der Transplantationsmedizin. Er leitete unter anderem die Intensivstation des CHUV und das Programme latin de don d’organesExterner Link. Heute setzt er sich für eine Gesetzesänderung ein, die er für unerlässlich hält.
swissinfo.ch: Warum engagieren Sie sich für eine Anpassung des Transplantationsgesetzes?
Philippe Eckert: Der Hauptgrund ist, dass zu wenig Spendeorgane zur Verfügung stehen und deshalb jedes Jahr Patient:innen sterben. In der Medizin schöpft man zuerst alle anderen Möglichkeiten aus, aber es gibt Situationen, in denen eine Transplantation die einzige Chance ist, Leben zu retten.
Man muss also alles tun, damit genügend Organe vorhanden sind. Es müssen nicht alle Schweizer:innen zu Spender:innen werden, aber wenn wir den Anteil der Bereitwilligen schon nur verdoppeln könnten, würde die Zahl der Menschen auf der Warteliste kleiner werden.
Doch würde das System der mutmasslichen Zustimmung die Zahl der Organspenden tatsächlich erhöhen?
Es gibt Beispiele, die das belegen. In Frankreich und den Niederlanden etwa ist die Zahl der Organspenden deutlich gestiegen, nachdem das Prinzip der mutmasslichen Einwilligung eingeführt wurde. Natürlich weiss man nicht mit Sicherheit, ob allein die Gesetzesänderung der Grund war oder auch Informationskampagnen einen Effekt hatten.
«In der Medizin schöpft man zuerst alle anderen Möglichkeiten aus, aber es gibt Situationen, in denen eine Transplantation die einzige Chance ist, Leben zu retten.»
Philippe Eckert, Generaldirektor CHUV
Das Nein-Komitee befürchtet, dass das neue Gesetz den Druck auf Angehörige erhöhen wird. Was sagen die dazu?
Seit über 20 Jahren bitte ich Familien um Organspenden. Das geschieht immer in einem tragischen Kontext, denn die Organspender:innen sind meistens gesunde Menschen, die plötzlich sterben. Die Familien stehen unter Schock.
In den meisten Fällen war das Thema Organspende mit der verstorbenen Person nicht besprochen worden. Das heisst, dass ich auf viele Angehörige treffe, die auf eine Organspende verzichten, weil sie nicht wissen, was die oder der Verstorbene gewollt hätte.
Das führt dazu, dass wir eine Ablehnungsquote von fast 50 Prozent haben, obwohl Erhebungen zeigen, dass rund 80 Prozent der Menschen Organspenden grundsätzlich befürworten.
Die Idee der mutmasslichen Zustimmung soll den Familien helfen, eine Entscheidung zu treffen. Man kann sie beruhigen, indem man sagt: Die Person hat sich zu Lebzeiten nicht dagegen ausgesprochen, also können wir davon ausgehen, dass sie eine Organspende befürwortet hat.
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Die nationale EthikkommissionExterner Link plädiert für ein System der Erklärungspflicht, bei dem alle Personen regelmässig aufgefordert werden, sich für oder gegen eine Organspende auszusprechen. Wäre dies nicht eine Lösung, die dem Recht auf Selbstbestimmung besser Rechnung trägt?
Über solche Optionen ist viel gesprochen worden. Zum Beispiel wurde auch diskutiert, die Haltung auf dem Führerschein oder der Krankenversicherungs-Karte zu vermerken.
Das ist jedoch schwer umzusetzen. Nehmen Sie als Beispiel das Register von Swisstransplant: Dort hat Jede und Jeder die Möglichkeit, seine Position festzulegen, aber der Erfolg hält sich in Grenzen: Bislang haben sich nur rund 130’000 Personen als potenzielle Spender:innen gemeldet.
Ein Systemwechsel würde von Informationskampagnen begleitet werden, die es allen ermöglichen würde, ihren Willen festzulegen. Letztendlich wird sich Jede und Jeder äussern können. Das Recht auf Selbstbestimmung wird somit nicht verletzt.
Die Gegnerschaft erweckt den Eindruck, dass da irgendjemand kommt und Ihre Organe entnimmt, ohne Sie nach Ihrer Meinung zu fragen – aber das ist überhaupt nicht der Fall.
Ist das Problem des aktuellen Systems nicht einfach der Mangel an Informationen?
So könnte man es sehen. In den letzten zehn Jahren wurden aber grosse Anstrengungen unternommen, um die Bevölkerung besser zu informieren. Es wurden Umfragen und Kampagnen durchgeführt. Diese Schritte müssen fortgesetzt werden, aber sie reichen nicht aus.
Es gibt auch Länder, konkret Polen oder Luxemburg, die trotz des Systems der mutmasslichen Zustimmung eine niedrigere Organspende-Rate haben als die Schweiz. Ist das nicht der Beweis dafür, dass nicht das Modell ausschlaggebend ist?
In der Tat ist eine Gesetzesänderung nicht alles, aber sie ist ein wichtiger Baustein. Diese Massnahme sollte nicht für sich allein stehen, aber sie ist notwendig, wenn man die Zahl der Patient:innen verkleinern will, die sterben, während sie auf ein Organ warten.
Das ist das Wichtigste am Ganz: Man rettet Leben. Man darf auch nicht vergessen, dass es für Schweizer:innen fünf- bis sechsmal wahrscheinlicher ist, eines Tages ein Organ zu erhalten, als selbst eines zu spenden.
François Bachmann, Vizepräsident der Evangelischen Volkspartei der Schweiz, ist gegen die Änderung des Transplantationsgesetzes. Im Interview erklärt er, warum:
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(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
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