Paris lässt Annemarie von Matts Schätze auferstehen
Vor mehr als fünfzig Jahren ging sie vergessen. Annemarie von Matt, Künstlerin aus der Zentralschweiz. Sie betrieb Recycling als Kunstform. Sie war aber auch eine Rebellin und Feministin vor ihrer Zeit. Nun widmet das Pariser Centre Culturel Suisse ihr eine Ausstellung.
«Ich tue nichts. Das nimmt meine ganze Zeit in Anspruch», schreibt Annemarie von MattExterner Link (1905-1967) am 1. März 1962 auf einen kleinen Papierzettel. Auf einem anderen Papier aus dem Jahr 1939 ist zu lesen: «Was schreibst Du da? Einen Brief an mich selber. Was schreibst Du an Dich selber? Ich weiss es nicht, ich habe den Brief noch nicht erhalten.»
Von 1935 bis 1967 führt Annemarie von Matt ihre innere Suche in ihrem Haus in StansExterner Link (Kanton Nidwalden) durch. Sie notiert ihre Gedanken, wo immer sie kann: auf Papier, Zündholzschachteln, Zeichnungen, Holzstücke – ob sie geschnitzt sind oder nicht. Alles bewahrt sie auf. Sie sammelt Objekte wie Knochen. Ein Vogelnest platziert sie in einem Fondue-Caquelon. Oder sie bewahrt kleine Bleistiftreste und ihre Späne auf.
Annemarie von Matt, Je ne m’ennuie jamais, on m’ennuie. Im Centre Culturel Suisse de Paris, bis am 15. November 2020.
Rückbeziehung auf sich selber, oder Öffnung gegenüber der Welt? Freude am Absurden? Auf jeden Fall ein Sinn für Bonmots und Humor. Annemarie von Matt hat schon recycelt, lange bevor man im Internet lernte, wie man Kunst aus Bleistiftspänen macht.
Sie war auch eine Feministin, die ihrer Zeit voraus war. Avantgardistisch in ihrer künstlerischen Praxis. Und all dies in einem derart traditionellen Kanton wie Nidwalden. «Sie lebte ihr Leben als Kunstwerk, noch bevor es diese Idee gab», sagt der Zürcher Künstler Sam Porritt.
In der Ausstellung, die das Centre Culturel Suisse de ParisExterner Link (CCSP) Annemarie von Matt widmet, geben zeitgenössische Werke, speziell jene von Sam Porritt, dem Werk der Stanser Künstlerin eine aktuelle Resonanz.
Die meisten der vom CCSP eingeladenen Künstlerinnen und Künstler wussten zuvor nichts von der Existenz dieser Frau. Bis sie für die Ausstellung nach Stans gereist sind. «Dort, unter den hohen Bergen, spürt man die Klaustrophobie, unter der sie vor allem in den 1930er- und 40er-Jahren gelitten haben muss», sagt Porritt, der in London geboren worden ist.
Allein, allein!
In ihrem Tagebuch beschreibt von Matt all jene kostbaren Momente, in denen sie «nichts tun» muss und ganz allein ist, in Grossbuchstaben: «ALLEIN, ALLEIN.» Sie ist jedoch weder asozial noch weltfremd.
1905 in bescheidenen Verhältnissen im Kanton Luzern geboren, heiratete sie 1935 den Nidwaldner Maler und Bildhauer Hans von Matt. Dieser stammte aus einer grossen Stanser Dynastie, zu der Dichter, Richter, Abgeordnete und Ständeräte gehörten.
Von Matts erste Werke – vor allem Wandteppiche und in Holz geschnitzte Madonnen – waren ein grosser Erfolg. So kauften die Schweizerische Eidgenossenschaft und die Stadt Luzern einige ihrer Werke. Im Jahr 1940 entwarf sie sogar eine Briefmarke, die den Frauenhilfsdienst im Schweizer Militär feierte.
Ihr Leben, ein Roman
Ab den 1940er-Jahren distanziert sich von Matt jedoch von den offiziellen Kreisen und dem traditionellen Künstlerleben. Sie stellt nicht mehr aus.
Und sie «befürwortet einen offenen Ansatz: Sammeln, Zusammenstellen, Kommentieren, Schreiben, Gruppieren, Kombinieren von Objekten, Bildern und Texten, ohne das Ergebnis in etwas Fertigem einzufrieren», sagt Claire Hoffmann vom CCSP. Sie kuratierte die Ausstellung zusammen mit Patrizia Keller vom Nidwaldner Museum Winkelriedhaus, wo die Ausstellung diesen Frühling präsentiertExterner Link wurde.
Die Familie ihres Mannes empfindet die schöne, wilde Einsiedlerin als halb verrückt. Und zu allem Überfluss ist sie auch noch Feministin. «Frauen sind die Herren der SCHÖPFUNG», schreibt sie 1948. «Sie sind die Künstlerinnen, die das Verlorene ersetzen, die Schäden reparieren (zusammenflicken), nur der erste Gott übertrifft sie.»
Es ist nicht erstaunlich, dass von Matt die Romanautoren inspiriert. 1994, fast 20 Jahre nach ihrem Tod, publiziert der Schriftsteller Otto Marchi «Soviel ihr wollt»: eine Umsetzung des Liebeslebens von Annemarie von Matt.
Denn das Eheleben der Künstlerin wird durch ihre intime Beziehung mit dem Priester und Philosophen Josef Vital Kopp gestört. Ein Skandal im Hause von Matt. Dieses arme Mädchen, ein wenig bescheuert, betrügt auch noch seinen Mann!
Konzeptkunst
«Ich denke daran, Deine Tage mit Blumen und Freuden zu krönen, Du, der alles lenkt, Du, der alles weiss», schreibt sie an Weihnachten 1940 in einer Brief-Collage an ihren Mann Hans. Für ihren Ehegatten benutzt sie die französische Sprache, die damals als «nobel» galt.
Französisch hatte sie gelernt, als sie als Kindermädchen in der französischsprachigen Schweiz gearbeitet hatte. Für den Geliebten, dem sie mehr oder weniger die gleiche Brief-Collage schreibt, wählt sie Deutsch. Ein schockierendes Zeugnis einer komplexen Liebe.
Die Zeiten haben sich geändert. Die von Matts kamen, um die Annemarie von Matt gewidmete Ausstellung im Museum Nidwalden zu sehen. «Und sie sind sehr stolz darauf, dass sie jetzt in Paris gefeiert wird», sagt Kuratorin Keller.
Die Ausstellung beharrt nicht auf diesen biographischen Elementen. «Man hat zu oft die Tendenz, sich für das Privatleben von Künstlerinnen zu interessieren, als ob ihr Künstlerleben nicht genügen würde», sagt die Pariser Kuratorin Hoffmann.
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Diskutieren Sie mit!