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Personenverkehr: Kampf bis zur letzten Stimme

In der Schweizer Gesundheitsbranche arbeiten viele Menschen aus der EU. Keystone

Weniger als zwei Wochen vor der Abstimmung über die Weiterführung der Personenfreizügigkeit und deren Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien ist die Ausgangslage eher knapp - mit leichtem Vorteil für die Befürworter.

«Man schenkt sich beidseitig nichts», sagt Claude Longchamp vom Forschungsinstitut gfs.bern, das die Umfrage für die SRG SSR idée suisse durchgeführt hat.

«Die Verwirrung ist recht gross in diesem Abstimmungskampf», betont der Politologe. Das Hickhack zwischen den beiden Lagern lasse viele Menschen unschlüssig.

Darum hätten lediglich 46% der Befragten angegeben, am 8. Februar ganz sicher an der Abstimmung teilnehmen zu wollen, was laut Longchamp einem «gut durchschnittlichen Interesse» entspricht.

Von diesen Stimmberechtigten sind 50% für die Vorlage zum freien Personenverkehr, während das Gegnerlager auf 43% kommt. Bei der ersten Umfrage über den Jahreswechsel hatte das Verhältnis noch bei 49 zu 40% gelegen. Das Gegnerlager konnte also in der Zwischenzeit 2% mehr zulegen.

Was dabei aber auffällt, ist die Ähnlichkeit zur letzten Abstimmung über die Personenfreizügigkeit im September 2005: Damals hatten bei der letzten Umfrage vor dem Urnengang 50% Ja und 38% Nein gesagt, bei der Abstimmung lag das Verhältnis schliesslich bei 56 zu 44%.

«Die aus der Abstimmung zur Personenfreizügigkeit 2005 bekannten Muster zur Ausgangslage, Meinungsbildung und Konfliktlinien finden sich auch bei der aktuellen Abstimmung in weitgehend identischer Form wieder», sagt Longchamp. «Wenn auch mit leichten Abweichungen: Die Gegnerschaft ist 2009 etwas stärker als bei der Abstimmung zur Personenfreizügigkeit 2005.»

Extrem polarisiert

Die Konfliktlinie zwischen Befürwortern und Gegnern verläuft laut der Umfrage klar und deutlich zwischen der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) und der Schweizerischen Volkspartei (SVP).

Bei allen Parteien links der FDP (73% Ja) liegen die Ja-Werte zwischen 84 (Sozialdemokratische Partei) und 64% (Christlichdemokratische Volkspartei), während die SVP-Wählerschaft die Vorlage mit 84% Nein klar ablehnt.

«Es ist eine ganz harte Trennlinie, die diesmal sehr gut funktioniert. Auch im bürgerlichen Zentrum gibt es eine weitgehende Zustimmung», kommentiert Longchamp. Entscheidend seien schliesslich die parteipolitisch Ungebundenen, die noch sehr unentschlossen wirkten: 42% dieser Gruppe würden derzeit Ja sagen, 47% Nein.

Dieser Einfluss ist nicht zu unterschätzen: Immerhin entspricht diese Gruppe laut Longchamp zwischen einem Drittel und einem Viertel aller Stimmenden. Normalerweise tendieren diese Personen in Umfragen deutlicher in eine Richtung. «Im Vergleich zu anderen europapolitischen Abstimmungen ist das derzeit das Auffälligste», betont Longchamp.

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Tessin bleibt dagegen

Etwas geringer ist die Polarisierung zwischen den Sprachregionen geworden. Während die italienisch-sprachige Schweiz bei der ersten Umfrage noch klar und deutlich mit 66% gegen die Vorlage war, hat sie sich nun mit 56% Nein etwas der französisch- (56% Ja) und der deutsch-sprachigen Schweiz (48% Ja) angenähert.

Auch bei der Bildung und der Siedlungsart stellt die Umfrage Unterschiede fest: Während in ländlichen Gebieten die Skepsis überwiegt, sind Leute aus mittelgrossen Gemeinden und Städten eher für die Personenfreizügigkeit.

Und: Je gebildeter die befragten Stimmberechtigten, desto aufgeschlossener sind sie gegenüber der Vorlage. Auffällig ist hier der regelrechte Einbruch der Zustimmung bei Personen mit Berufsschulabschluss: Er fiel von 64% in der ersten Umfrage auf 30, was laut Longchamp auf eine massive Verunsicherung in dieser Gruppe schliessen lässt.

Schlagende Argumente

Diese Verunsicherung ist auch bei der Zustimmung zu den wichtigsten Argumenten der Befürworter und Gegner zu sehen: «26% sind inhaltlich hin- und hergerissen», so Longchamp.

Das heisst, dass sie sowohl Argumenten der einen wie auch solchen der anderen Seite zustimmen. Sei das etwa dem Befürworter-Argument, der freie Personenverkehr sei wirtschaftlich notwendig, wie auch jenem der Gegner, die Verknüpfung von Weiterführung und Ausdehnung zu einem Paket sei undemokratisch.

Im Vergleich zur ersten Umfrage fällt auf, dass diese beiden Argumente im Verlauf von drei Wochen nun mehrheitsfähig geworden sind. Auch dem Ja-Argument, der Schutz vor Lohndumping sei genügend, sowie dem Gegner-Argument, die Sozialwerke würden stärker belastet, stimmt eine Mehrheit der Befragten zu.

«Damit verfügen nun das Ja- wie auch das Nein-Lager über mehrheitsfähige Argumente», sagt Longchamp.

swissinfo, Christian Raaflaub

50% Ja, davon 37% bestimmt Ja und 13% eher Ja

43% Nein, davon 32% bestimmt Nein und 11% eher Nein

7% Unschlüssig

46% der Befragten wollen an die Urne gehen.

Für die 2. Umfrage zur Abstimmung vom 8. Februar 2009 hat das Institut gfs.bern 1211 Stimmberechtigte aus der ganzen Schweiz befragt. Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer wurden nicht befragt.

Die telefonischen, sprachregional gewichteten Befragungen fanden zwischen dem 19. und dem 24. Januar 2009 statt.

Am 25. September 2005 stimmte die Schweiz über den Bundesbeschluss zur Ausdehnung des Personenfreizügigkeits-Abkommens auf die damals neuen EU-Staaten in Ost- und Südeuropa ab sowie über die Revision der flankierenden Massnahmen, also über die heute geltende Personenfreizügigkeit zwischen der EU und der Schweiz.

An der Abstimmung nahmen 54% der Stimmberechtigten teil. Davon votierten 56% für die Vorlage, 44% dagegen.

Die Umfragewerte von damals sind laut gfs.bern vergleichbar mit den heutigen, wobei das Gegnerlager diesmal leicht höhere Werte aufweist.

swissinfo.ch

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