Hans und Ruth Wüthrich haben ihre Arbeitsstunden auf dem Bauernhof nie gezählt. Sie waren untröstlich, als die letzten Kühe den Stall verliessen.
Tomas Wüthrich
Der Fotograf Tomas Wüthrich begleitete im Jahr 2000 seine Eltern während ihrer letzten vier Jahreszeiten auf dem Bauernhof. Zwanzig Jahre später veröffentlicht er seine Bilder in einem Buch. Ein raues und berührendes Zeugnis.
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Ich mag es, auf Leute zuzugehen. Meine Lieblingsbereiche sind Politik, Asyl und nationale Minderheiten. Als ausgebildete Radiojournalistin hatte ich vorher sowohl bei Radiosendern im Jurabogen gearbeitet und auch als Freischaffende.
Thomas Kern wurde 1965 in der Schweiz geboren. Er wurde in Zürich zum Fotografen ausgebildet und begann 1989 als Fotojournalist zu arbeiten. 1990 Mitbegründer der Schweizer Fotografenagentur Lookat Photos. Thomas Kern hat zweimal einen World Press Award gewonnen und wurde in der Schweiz mit mehreren nationalen Stipendien ausgezeichnet. Seine Arbeiten wurden vielfach ausgestellt und sind in verschiedenen Sammlungen vertreten.
Im Alter von 19 Jahren verliess Tomas WüthrichExterner Link den elterlichen Bauernhof in Kerzers im Kanton Freiburg. «Das Leben war hart, es gab viel Arbeit, und ich fühlte mich eingeengt in diesem Dorf», erinnert er sich.
Jahre später veranlassten ihn die Geburt seiner Kinder und seine Ausbildung zum Fotografen, auf den Hof zurückzukehren. Seine Eltern verbrachten ihr letztes Jahr auf dem Bauernhof, der Vater hatte das Rentenalter erreicht. Das Paar konnte es sich nicht leisten, zu investieren, um die neuen, vom Staat auferlegten Standards zu erfüllen. Gerne hätten sie etwas Land und ein paar Kühe behalten.
Tomas Wüthrich auf einem Foto aus dem Jahr 2019, aufgenommen bei ihm daheim in Liebistorf, Kanton Freiburg.
Thomas Kern/swissinfo.ch
«Mein Vater war wütend, dass er nicht selber entscheiden konnte, wann er seinen Hof aufgeben möchte», sagt Wüthrich. «Dann hat er mit einiger Traurigkeit resigniert.»
Der Fotograf wollte die letzten Momente des Bauernhofs und seiner Bewohner festhalten. Aber das Fotografieren der eigenen Familie ist ein schwieriges Unterfangen.
«Es war mein allererstes fotografisches Projekt. Und ich war sehr naiv», sagt er. «Ich wollte nur beobachten, wie meine Eltern arbeiten. Für jemand anderen wäre es wahrscheinlich weniger schwierig gewesen, weil man ihm zuerst die Rolle des Fotografen zugewiesen hätte und nicht die des Sohns.»
«Ich wollte nicht romantisieren»
Wüthrich folgte seinen Eltern bei ihren täglichen Tätigkeiten: beim Melken der Kühe, beim Putzen des Stalls, bei der Arbeit auf dem Feld. Seine Schwarz-Weiss-Bilder verraten seine enge Beziehung zum Bauerntum und zeigen, wie hart die Arbeit auf dem Hof ist.
Beim Mähen von Bioheu sucht Ruth Wüthrich nach der Markierung, die zwei Felder voneinander trennt.
Tomas Wüthrich
Die Kühe werden morgens und abends gemolken. Während Hans melkt, reinigt Ruth den Stall, füttert die Tiere und holt die Milch aus dem Stall, um sie später in die Käserei zu bringen.
Tomas Wüthrich
Hans und Ruth auf ihrem McCormick D-436 von 1957, vor ihrem Bauernhof in Kerzers (links). Abends, zwischen 20 und 21 Uhr, beendet Hans seinen Tag und schläft vor dem Fernseher ein (rechts).
Tomas Wüthrich
Hans Wüthrich holt überschüssige Grassilage-Reste von einem Nachbarn ab. Die Kühe dürfen während der Käseherstellung, die im Mai beginnt, keine Grassilage fressen. Alle Silos, die von der Käsegenossenschaft überwacht werden, müssen geleert und gereinigt werden.
Tomas Wüthrich
Zwei Kälber lecken sich nach dem Trinken gegenseitig ab. Sie bekommen nur Milch und dürfen weder Heu noch Gras fressen, damit ihr Fleisch weiss bleibt.
Tomas Wüthrich
Der «Stiefelknecht» erleichtert das Ausziehen der Gummistiefel nach der Arbeit im Stall.
Tomas Wüthrich
Ruth und ihre Enkelin bringen die Abendmilch in die Käserei. Die Milcherzeugung unterliegt seit den 1970er-Jahren einer Quotenregelung. 43’000 Kilo dürfen die Wüthrichs pro Jahr liefern. Bei einem Milchpreis von 77 Rappen pro Kilo ergibt sich ein Brutto-Jahreseinkommen von 33’110 Franken.
Tomas Wüthrich
Hans und Ruth beim Mittagessen in der Küche.
Tomas Wüthrich
Hans bearbeitet das Feld eines anderen Bauern (links). Ruth sitzt auf dem Beifahrersitz des Traktors mit einer Sense und einem Strauss Holunderblüten (rechts).
Tomas Wüthrich
Der Vertrag mit Urs Johner ist unterzeichnet. Er kauft den grössten Teil der 6,48 Hektar von Hans und Ruths Land. Pachtland ist sehr gefragt.
Tomas Wüthrich
Hans trägt eine mit Heu beladene Gabel. Er macht sich immer Sorgen, dass der Sommer zu trocken ist und freut sich auf den Regen, damit das Gras wächst und es genug Heu für den Winter gibt (links). Ruth trägt eine Milchkanne in die Scheune (rechts).
Tomas Wüthrich
Seit 1996 betraute die Familie Wüthrich einen anderen Landwirt mit der Aufgabe, ihre Zuckerrüben mit einem so genannten Vollernter zu ernten, weil ihnen die traditionelle Methode – die viel Handarbeit erfordert – zu anstrengend geworden ist. Seit in Kerzers der Transport von Zuckerrüben per Bahn abgeschafft wurde, müssen die Bauern ihre Rüben selber in die Zuckerfabrik Aarberg bringen. Das erfordert grosse Maschinen und geeignete Traktoren, über welche die Wüthrichs nicht verfügen.
Tomas Wüthrich
Hans hilft beim Verladen seiner Tiere. Alles geht sehr schnell, der Stall ist innert wenigen Minuten leer.
Tomas Wüthrich
Der Abschied von den Kühen ist für alle ein schmerzhafter Moment. Deborah, einst die schönste Kuh im Stall, reckt im Moment der Abfahrt ihren Hals und wirft einen letzten Blick zurück.
Tomas Wüthrich
Nachdem ihr Hof den Betrieb eingestellt hatte, wurden Hans und Ruth von verschiedenen Landwirten angestellt. Die beiden haben ihre geleisteten Stunden in einem Heft festgehalten. Sie wissen noch nicht, wie hoch ihr Lohn sein wird. Nur, dass er 12 Schweizer Franken pro Stunde nicht übersteigen wird.
Tomas Wüthrich
«Meine Gefühle waren in diesem Jahr ambivalent», sagt Wüthrich. «Ich war auf der Suche nach meinen Wurzeln; ich wollte, dass meine Eltern meine Arbeit als Fotograf anerkennen, und ich wollte das Bauernleben nicht romantisieren. Ich hatte viele Bilder von Bauern gesehen und fand, dass sie immer zu romantisch dargestellt wurden.»
Im Jahr 2001 wurden einige dieser Fotos im Magazin des Tages-Anzeigers veröffentlicht. Danach begann Wüthrich als freier Fotograf für verschiedene Medien zu arbeiten und nahm weitere Projekte in Angriff. Seine Reportage über die letzten Penan-Nomaden auf der Insel Borneo wurde für den Swiss Design AwardExterner Link nominiert, und Wüthrich erhielt mehrmals den Swiss Press Photo AwardExterner Link.
Der Fotograf recherchierte und stellte fest, dass das Bauernsterben weitergeht: Etwa tausend Höfe werden jedes Jahr aufgegeben. So bleibt das Problem aktuell, und seine Bilder wirken bis heute nach.
«Ich dachte auch, dass angesichts der globalen Klimaerwärmung und der veganen Bewegungen die Zeit reif ist, die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Ernährung, die Produktion, die Herkunft der Lebensmittel und die Frage der regionalen Produktion zu lenken», sagt Wüthrich.
Im Jahr 2000 gab es in der Schweiz etwa 70’000 landwirtschaftliche Betriebe. Diese Zahl sank laut dem Bundesamt für StatistikExterner Link (BFS) auf 50’000 im Jahr 2019. Auch die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Bereich ist drastisch zurückgegangen.
Tendenziell verschwinden kleinere Höfe, und die verbleibenden Betriebe expandieren. Dies erklärt, warum die landwirtschaftliche Nutzfläche auf einem relativ stabilen Niveau bleibt. Besonders hart trifft es die Milchbauern, deren Zahl sich in 20 Jahren fast halbiert hat.
Der Rückgang der landwirtschaftlichen Betriebe ist ein weltweiter Trend, eine Folge von Industrialisierung und Globalisierung. Er kann auch in allen Ländern der Europäischen Union ausser Irland beobachtet werden.
Seine Bauernhof-Bilder führten zu vielen Reaktionen. Er erhielt vielen Briefe von Menschen, die sagten, dass sie von seinem Buch berührt waren, weil sie die gleiche Geschichte durchgemacht hatten oder Familien kannten, denen es ebenfalls so ergangen sei.
«Von einem Familienhof leben können»
Der Fotograf will mit der Veröffentlichung dieses Buchs nicht zwingend eine Botschaft vermitteln. «Aber ich würde mich freuen, wenn meine Bilder zum Nachdenken anregen, wenn die Leute sich fragen, ob diese ganze Globalisierung wirklich notwendig ist. Ob es nicht besser wäre, die Dinge in einem kleineren Rahmen zu betrachten», sagt er.
Selbstporträt des Fotografen im Küchenspiegel, mit seiner Mutter im Hintergrund.
Tomas Wüthrich
Wüthrich glaubt, dass der Staat mit seiner Subventionspolitik die industrielle Landwirtschaft fördert. Obwohl er gleichzeitig auch die Ökologie in den Vordergrund stellen wolle.
«Das ist nicht kompatibel. Das funktioniert nicht», sagt der Fotograf. «Ich bin nicht so naiv, dass ich zu den früheren Verhältnissen zurückkehren möchte. Aber ich denke, es sollte immer noch möglich sein, von einem Familienbetrieb leben zu können.»
Sein Vater ist gerade 88 geworden und sagte seinem Sohn, dass er glücklich sei. Tomas Wüthrich ist zufrieden mit diesem Ausgang: Trotz der Aufgabe des Bauernhofs sind seine Eltern nicht frustriert und haben ihr Leben in den Griff bekommen. Stolz sind sie auch auf das von ihrem Sohn veröffentlichte Buch.
Als er ihnen erstmals von seinem Buchprojekt erzählt hatte, seien sie nicht begeistert gewesen. Seine Mutter sagte ihm, dass sie es nicht mochte, im Rampenlicht zu stehen und nicht verstand, warum er all diese Erinnerungen hervorholen wollte.
«Sie fand, ich hätte keine schönen Bilder ausgewählt», sagt Wüthrich. «Aber nachdem sie den Begleittext gelesen hatte, wurde ihr klar, dass das Zeigen dieser Arbeit auch für künftige Generationen wichtig ist.»
«Hof Nr. 4233 – Ein langer Abschied» zeigt in 73 Schwarz-Weiss-Fotografien das bäuerliche Leben von Tomas Wüthrichs Eltern, Ruth und Hans Wüthrich, während ihres letzten Jahrs auf dem Bauernhof.
Das Buch ist in deutscher und französischer Sprache beim Verlag Scheidegger & Spiess erschienen.
Es enthält zudem Texte von Peter Pfrunder, Direktor der Fotostiftung Schweiz, und Balz Theus, Journalist und Autor.
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