Zimmerwald, Wiege der russischen Revolution
Vor 100 Jahren fand die Zimmerwalder Konferenz statt, ein bedeutendes Treffen sozialistischer Aktivisten. Der geheimnisumwitterte Kongress markierte ein wichtiges Datum der russischen Geschichte, hinterliess aber auch Spuren in der Schweiz.
Die Liste der Veranstaltungen zum hundertjährigen Jubiläum der Konferenz im bernischen Dorf ZimmerwaldExterner Link ist lang: Eine Ausstellung im Regionalmuseum SchwarzwasserExterner Link in Schwarzenburg, eine Reihe von Konferenzen in der Schweizerischen Osteuropabibliothek der Universität Bern, oder die Publikation des Buches «Zimmerwald und Kiental» der Historiker Julia Richers und Bernard Degen (siehe Kasten unten). Nicht zu vergessen natürlich die Feiern im Dorf Zimmerwald selber.
Zimmerwalder Manifest
Die Zimmerwalder Konferenz endete mit einem Manifest, das namentlich von Leo Trotzki verfasst wurde. Das Dokument unterstreicht den imperialistischen Charakter des Krieges und die Notwendigkeit, den Kampf «für einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen» aufzunehmen.
Das Manifest hält besonders fest, ein solcher Frieden sei «nur möglich unter Verurteilung jedes Gedankens an eine Vergewaltigung der Rechte und Freiheiten der Völker. Weder die Besetzung von ganzen Ländern noch von einzelnen Landesteilen darf zu ihrer gewaltsamen Einverleibung führen. Keine Annexion, weder eine offene, noch eine maskierte, auch keine zwangsweise wirtschaftliche Angliederung, die durch politische Entrechtung nur noch unerträglicher gemacht wird».
Anfang September versammelten sich Politiker, Journalisten und die Öffentlichkeit, um gemeinsam das 100-Jahr-Jubiläum dieses Ereignisses zu feiern. Doch weshalb war die Konferenz von Zimmerwald derart bedeutend? Um sich dies in Erinnerung zu rufen, reicht es, einige historische Fakten aufzuzählen: Der Kongress versammelte 1915 die europäischen Sozialisten im Dorf Zimmerwald, keine zehn Kilometer Luftlinie südlich von Bern. Derweil wütete in Europa der I. Weltkrieg.
«Damals wurde das Proletariat wortwörtlich als Kanonenfutter in den Schützengräben verheizt», sagt Julia Richers, Historikerin und Mitautorin des Buchs «Zimmerwald und Kiental»Externer Link.
Robert GrimmExterner Link, ein prominenter linker Journalist und Chefredaktor der Tageszeitung «Berner Tagwacht», übernimmt damals die Organisation des Treffens und mietet unter seinem Namen ein Lokal. Der Historiker Bernard Degen unterstreicht, dass Grimm «ein brillanter Organisator und ein fesselnder Redner war, vermutlich eine der wichtigsten politischen Figuren, welche die Schweiz im 20. Jahrhundert kannte».
Die Konferenz wird im Geheimen durchgeführt. Die Behörden sind überzeugt, dass es sich dabei um ein Treffen von Ornithologen handelt, und nicht von international bekannten Sozialisten.
Beständiges Erbe
Der Kongress beginnt am 5. September 1915, mit 38 Teilnehmern aus elf Ländern. Die russische Delegation besteht – unter anderen – aus Leo Trotzki, Grigori Sinowjew, Karl Radek und Wladimir Lenin, der «sein ‹Ghetto› in Bern verlässt, um sich in Zimmerwald mit den Merkmalen eines echten Anführers der radikalen Arbeiterbewegung zu präsentieren», erzählt Mitautor Degen.
Die Konferenz lanciert einen Aufruf gegen den Weltkrieg. Im Zimmerwalder ManifestExterner Link, von einer Mehrheit der Teilnehmer gutgeheissen, wird unterstrichen, dass das Proletariat für einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen kämpfen müsse, und dass das Selbstbestimmungsprinzip der Nationen die Basis für internationale Beziehungen bilden solle.
«Abgesehen von der kommunistischen Rhetorik beinhaltet das Manifest der Konferenz berechtigte Forderungen, wie die Notwendigkeit des Friedens zwischen den Völkern, wie wir dies heute anstreben», erklärte die Sozialdemokratin Barbara Egger-JenzerExterner Link, Regierungsrätin des Kantons Bern, in Zimmerwald in ihrer Ansprache zum Jubiläum.
«Abgesehen von der kommunistischen Rhetorik beinhaltet das Manifest der Konferenz berechtigte Forderungen, wie die Notwendigkeit des Friedens zwischen den Völkern, wie wir dies heute anstreben.» Barbara Egger-Jenzer, Regierungsrätin Kanton Bern
Lenin präsentiert im damaligen Bauerndorf seine Theorie der Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg. Er gründet – zusammen mit acht seiner Anhänger, darunter Sinowjew und der Gründer der schweizerischen Kommunistischen Partei, Fritz Platten – die revolutionäre sozialistische Bewegung namens «Zimmerwalder Linke».
Auch wenn sich diese Bewegung zum Manifest bekennt, künden deren Führer an, sie würden eine unabhängige politische Linie verfolgen. Die Aktionen dieser radikalen Gruppe werden den Verlauf der Ereignisse in Russland wesentlich prägen. Über die Friedensaufrufe hinaus hallen 1915 auch Ansprüche auf die Gewährung mehr politischer und sozialer Rechte der Arbeitnehmer durch Europa.
Egger-Jenzer schätzt, seit der Konferenz seien zahlreiche positive Entwicklungen in diesem Sinne entstanden. «Heute muss sich in Europa niemand mehr verstecken, um die Menschenrechte zu verteidigen. Die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit gehören zu den Grundwerten, die in der Schweiz jedem Menschen garantiert werden», so die Regierungsrätin.
«Das Land hat seither grosse Fortschritte auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit gemacht, von denen man 1915 nicht einmal träumen durfte. Der Arbeitstag von acht Stunden, bezahlter Urlaub, das Altersversicherungs-System gehören zu diesen Errungenschaften», zählt Egger-Jenzer weiter auf. Sie ist überzeugt: Alle diese Errungenschaften seien unter anderem der Zimmerwalder Konferenz zu verdanken.
Zurück nach Russland
Eineinhalb Jahre nach der Konferenz verlassen Lenin und seine Anhänger die Schweiz in Richtung Russland, in einem durch Fritz Platten organisierten Zug durch Deutschland. Eine Woche später erreichen die Aktivisten Sankt Petersburg (damals Petrograd) und läuten dort eine neue Ära ein. «Ohne diesen Zug, das heisst, ohne Zimmerwald, Grimm und Platten, hätte die russische Revolution vielleicht nicht stattgefunden», erklärt Julia Richers.
Das Schicksal wird es mit vielen der Konferenzteilnehmer nicht gnädig meinen. Trotzki wird in den 1940er-Jahren auf Anordnung Stalins in Mexiko ermordet – mit einem Eispickel erschlagen. Bereits in den 1930er-Jahren fallen Sinowjew und Radek den stalinistischen Säuberungsaktionen zum Opfer, wie auch 1942 der Schweizer Platten.
Grimm hingegen ist das Glück hold. 1918 ist er einer der Organisatoren und übernimmt schliesslich die Leitung des GeneralstreiksExterner Link. 1945 wird er sogar Nationalratspräsident und damit inoffiziell «höchster Schweizer».
Lenin seinerseits gelingt es, einigen der Deklarationen von Zimmerwald Leben einzuhauchen. Der I. Weltkrieg wird in Russland tatsächlich zu einem Bürgerkrieg, eine veritable nationale Tragödie. Was die Ideale sozialer Gerechtigkeit betrifft, werden diese nicht in Russland, sondern in der Schweiz umgesetzt. Und dies, ohne einen Tropfen Blut zu vergiessen.
«Zimmerwald und Kiental»
Julia Richers wurde 1975 in Basel geboren. Sie studierte Osteuropäische Geschichte in Basel und Budapest und arbeitet heute als Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bern.
Bernard Degen wurde 1952 in Basel geboren. Er studierte Geschichte, Wirtschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Basel, bevor er Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte der Universität Bern wurde. Heute unterrichtet er Geschichte an der Universität Basel und ist Forschungsdirektor des Bundesprojekts Historisches Lexikon der Schweiz.
Die beiden Historiker haben gemeinsam das Buch «Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe» geschrieben, in dem die beiden sozialistischen Kongresse 1915 in Zimmerwald und 1916 in Kiental beschrieben werden. Das Buch kam im September 2015 im Zürcher Chronos VerlagExterner Link heraus.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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