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60 Jahre Einsatz für die Menschenrechte

Menschen in orangen Anzügen in Käfigen
Protest gegen Guantanamo: Aktivist:innen von Amnesty International forderten 2009 in Bern mit der Aktion "Eingesperrt in Käfigen" die sofortige Schliessung des US-Foltergefängnisses. Keystone / Lukas Lehmann

Amnesty International wurde 1961 gegründet und hat wie kaum eine andere Organisation dazu beigetragen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Menschenrechte zu lenken. Amnesty hat neue Formen des politischen Aktivismus entwickelt – jenseits der grossen Ideologien des 20. Jahrhunderts. Doch die Arbeit der Nichtregierungs-Organisation wird auch kritisiert, selbst in demokratischen Ländern.  

«Wenn Sie an einem beliebigen Tag der Woche Ihre Zeitung aufschlagen, werden Sie immer einen Bericht aus irgendeinem Land der Welt über eine Person finden, die inhaftiert, gefoltert oder hingerichtet wurde, weil ihre Ansichten oder religiösen Überzeugungen für die jeweilige Regierung inakzeptabel sind.»

Mit diesem Satz beginnt der am 28. Mai 1961 von dem britischen Anwalt Peter Benenson lancierte AppellExterner Link zugunsten von politischen Gefangenen. Der Text erschien in der Londoner Tageszeitung The Observer und gilt als Gründungsakt für die Menschenrechtsorganisation Amnesty InternationalExterner Link oder kurz AI. Seine Publikation fiel mitten in die heisseste Phase des Kalten Krieges.

Portrait
AI-Gründer Peter Benenson 1961. Pa Images

Menschenrechte im Kalten Krieg

Wenige Wochen vor der Veröffentlichung des Appells, im April 1961, misslang der Versuch der Vereinigten Staaten, in Kuba das Regime von Fidel Castro zu stürzen. Im Jahr darauf löste die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba eine Krise aus, welche die ganze Weltgemeinschaft in einen Atomkrieg zu stürzen drohte. In Europa begann derweil im August 1961 der Bau der Berliner Mauer.

Innerhalb des Konflikts zwischen dem Westen und dem Ostblock hatte die von den Vereinten Nationen (UNO) 1948 formulierte Allgemeine Erklärung der MenschenrechteExterner Link einen schweren Stand, zumal diese Erklärung nicht verbindlich war und keine konkreten Anwendungsbestimmungen vorsah.

Erst Anfang der 1970er-Jahre änderte sich die Situation, im Zuge der Entkolonialisierung sowie der internationalen Proteste gegen die Militärdiktaturen in Griechenland und Brasilien sowie im Zusammenhang mit dem Putsch in Chile. Die Menschenrechte waren nicht länger abstrakte Ideen in Konferenzsälen von internationalen Organisationen, sondern begannen in den öffentlichen Diskussionen eine immer wichtigere und konkreter Rolle zu spielen.

Die Schweizer Sektion von Amnesty InternationalExterner Link (AI Schweiz) wurde 1970 offiziell gegründet. Zuvor gab es eine Reihe lokaler Gruppen, insbesondere die Genfer Gruppe, die 1964 im Umfeld der dort tätigen internationalen Organisationen gegründet worden war. AI Schweiz wuchs schnell. «Zwischen 1970 und 1975 wurde fast jeden Monat eine neue Gruppe gegründet», heisst es in einer Broschüre, die anlässlich des 40-jährigen Bestehens der NGO veröffentlicht wurde.

Neue Form des politischen Aktivismus

Das Jahr 1968 markierte den Höhepunkt einer Welle politischer Kämpfe, die an die Tradition der Französischen Revolution anknüpften. Diese war die historische Wiege der Menschenrechte. Doch die grossen Ideologien zeigten erste Risse. Das Engagement für die Menschenrechte entwickelte sich zu einer neuen Form des Aktivismus, der sich auf moralische Grundsätze und auf die Rechte des Einzelnen stützt und nicht mehr unbedingt auf den politischen Kampf.

Amnesty International steht im Zentrum dieser Entwicklung und ist zu ihrem Symbol geworden. Im Jahr 1977 erhielt die Organisation den Friedensnobelpreis für ihre Kampagne gegen Folter. Im selben Jahr bezeichnete der neugewählte US-Präsident Jimmy Carter in seiner Antrittsrede die «Human Rights», die Menschenrechte, als neuen Richtwert für die US-Aussenpolitik.

Für den Schweizer Historiker Philipp Sarasin, der vor kurzem das Buch «1977Externer Link: Eine kurze Geschichte der Gegenwart» veröffentlicht hat, markieren diese beiden Ereignisse einen umfassenderen Wandel im politischen Bewusstsein. «Nicht politische Konflikte und die Interessen von Kollektiven, nicht der Wille zur politischen Veränderung […] standen mehr im Fokus, sondern nun ging es um individuelles Leiden und individuelle ‹Rechte›, die von individuellen Akteuren oder anwaltschaftlichen Gruppen eingeklagt wurden», schreibt Sarasin.

Von Gewissensgefangenen zu sozialen Rechten

Für einige Analysten ist dieser Paradigmenwechsel Ausdruck für die Kapitulation der Politik vor den Märkten. So warf die amerikanische Journalistin und Aktivistin Naomi Klein AI vor, die politischen und wirtschaftlichen Ursachen von Menschenrechtsverletzungen nicht ausreichend zu berücksichtigen.

Diese Kritik scheint jedoch angesichts der Entwicklung der NGO zu kurz gegriffen. Im Laufe der Geschichte hat Amnesty seinen Aktionsradius deutlich ausgeweitet. Zu den Aktionen zugunsten so genannter Gewissensgefangener kamen bald Kampagnen gegen Folter und die Todesstrafe, für die Rechte von Flüchtlingen, später dann auch Kampagnen zur Begrenzung des Waffenhandels oder für die Rechte der Frauen.

Angesichts der Herausforderungen der Globalisierung und des wachsenden Einflusses multinationaler Unternehmen beschloss Amnesty im Jahr 2001, das eigene Mandat auf die sozialen Rechte auszuweiten.

«Die Betonung individueller politischer und bürgerlicher Rechte hing mit den angelsächsischen Wurzeln von Amnesty International zusammen», erklärt Alexandra Karle, Geschäftsführerin von AI Schweiz.

«Heute identifizieren wir uns mit den im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle RechteExterner Link niedergelegten Grundsätzen. Themen wie Ernährung, Bildung, Zugang zu Wasser sind vor allem für die Regionen im globalen Süden von zentraler Bedeutung,» sagt sie.

«Im Solde Moskaus»

Amnesty Schweiz musste zudem erkennen, wie schwierig es war, zu bestimmten Themen Kampagnen zu fahren, ohne der Parteilichkeit beschuldigt zu werden. Anfang der 1970er-Jahre erhielt AI aus der ganzen Bevölkerung viel Unterstützung für ihre Kampagne gegen die Folter. Doch bereits Mitte der 1970er-Jahre kam es wegen der Kritik von AI an den Haftstrafen für Kriegsdienstverweigerer in der Schweiz zu heftigen Debatten.

«Es gab viele Leserbriefe in den Zeitungen, welche unser Vorgehen kritisierten. Man hat uns sogar vorgeworfen, im Solde Moskaus zu stehen», erinnerte sich im Jahr 2001 der erste politische Sekretär von AI Schweiz, André Daguet, anlässlich des 40-Jahr-Jubiläums.

Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten wurde Amnesty International laut Alexandra Karle immer wieder vorgeworfen, politisch zu weit links zu stehen, etwa im Fall einiger Kampagnen für die Rechte von Flüchtlingen oder in jüngster Zeit bei der Kritik am Bundesgesetz zur TerrorismusbekämpfungExterner Link oder dem Engagement zugunsten der Konzernverantwortungsinitiative.

«Unsere Positionen sind das Ergebnis von intensiven Diskussionen innerhalb der Organisation und mit Aktivist:innen», versichert Alexandra Karle. «Wir handeln auf der Grundlage eines breiten Konsenses, wenn wir glauben, dass die Menschenrechte verletzt werden oder in Frage gestellt sind.» Zudem präzisiert die Geschäftsführerin von AI Schweiz: «Grundlage für unsere Aktivitäten ist immer das geltende Völkerrecht.»

Erfolge und Herausforderungen

Wie steht es um die Menschenrechte 60 Jahre nach der Gründung von Amnesty International? Karle spricht von einer «Wellenbewegung». «In den letzten Jahrzehnten hat es in entscheidenden Bereichen grosse Fortschritte gegeben. Ich denke dabei beispielsweise an die Bekämpfung von Kriegsverbrechen oder Folter. Aber es sind auch neue Probleme aufgetreten, etwa bei der Verwendung neuer Technologien zur Überwachung von Menschenrechts-Aktivist:innen.»

Gemäss der Geschäftsführerin von AI Schweiz werden an vielen Orten der Welt die Menschenrechte weiterhin verletzt. Die Gültigkeit der Menschenrechte werde sogar in demokratischen Ländern manchmal in Frage gestellt: «Man denke nur an die wiederholten Verstösse gegen die Genfer Flüchtlingskonvention in vielen europäischen Staaten». Alexandra Karle zeigt sich angesichts bestimmter Menschenrechtsverletzungen auch besorgt über einen Mangel an Protestbewegungen in der Zivilgesellschaft.

In Hinblick auf die Massnahmen zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie mahnt Karle dazu, das Mass nicht zu verlieren: «Wir beobachten die Situation aufmerksam. Auch wir haben zu Beginn der Pandemie unsere Besorgnis über das Demonstrationsverbot geäussert. Die in der Schweiz getroffenen Massnahmen entsprechen jedoch dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Wer sich nicht impfen lassen will, kann sich testen lassen.»

Amnesty International konzentriert sich im Rahmen der Pandemie- Bekämpfung zurzeit auf den Zugang zu Impfstoffen: «Der Patentschutz muss aufgehoben werden, damit auch Länder mit niedrigem Einkommen ihre Bevölkerung mit Impfstoffen schützen können.» Neben der Kampagne zur Revision des Sexualstrafrechts handele es sich um die aktuell wichtigste Kampagne ihrer Organisation, meint Alexandra Karle.

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