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Zersiedelung: Boden erhalten oder die Schweiz in ein Fossil verwandeln?

Gabarits de construction
Eine Baustelle in Uitikon, Kanton Zürich. Die Zersiedelungs-Initiative will die Verbauung schöner Landschaften stoppen. Gaetan Bally / Keystone

Sollen angesichts der immer stärkeren Zersiedelung die Bauzonen eingefroren werden, wie es die Volksinitiative der jungen Grünen fordert, über die am 10. Februar abgestimmt wird? Für die Gegner ist das kürzlich revidierte Raumplanungsgesetz mehr als ausreichend.

Wird die Schweiz exzessiv zubetoniert? Die ZahlenExterner Link (die jüngsten verfügbaren Daten sind von 2009) sind in diesem Bereich nicht so eindeutig. Formal machen die von Gebäuden, Strassen oder anderen Infrastrukturen bedeckten Landteile nur 7,5% des Staatsgebiets aus. Auch wenn jedes Jahr eine Fläche in der Grösse der Stadt Basel bebaut wird, ist die Schweiz noch weit von den Niederlanden (wo 37% des Gesamtgebiets von Gebäuden, Strassen oder Eisenbahnschienen bedeckt sind) oder von Belgien entfernt (25%). Auch die Nachbarländer der Schweiz haben höhere Werte (zwischen 10 und 14%), und die Schweiz liegt sogar mehr als drei Prozentpunkte unter dem Durchschnitt der Europäischen Union (11%)

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Es gibt jedoch zwei «Aber»: Erstens beinhalten diese Zahlen alles, was der Mensch von Feldern, Wiesen und Wäldern «genommen» hat. Aber zählt man Gärten von Einfamilienhäusern, öffentliche Parks, Friedhöfe oder Fussballplätze als «Bebauungen»? Wenn die Antwort Nein ist und wir uns strikt an die durch Beton und Asphalt undurchlässig gemachten Oberflächen halten, hat die Schweiz bisher nur 4,7% ihres Bodens «verbraucht».

Dies ist wiederum geringer als in den Niederlanden (13%), Belgien (10%), Deutschland und Italien (7%), Frankreich und Österreich (5%), aber etwas mehr als in der EU insgesamt (4%).

Jetzt kommt jedoch das zweite «Aber»: Die Schweizer und Schweizerinnen leben in einem Land, dessen Topographie nicht mit derjenigen der europäischen Champions im Zubetonieren (und der damit verbundenen Bevölkerungsdichte) verglichen werden kann. Während in Belgien und den Niederlanden die Gebäude auf einem fast vollständig flachen Gebiet verteilt werden können, machen die Berge fast 70% der Schweiz unbewohnbar.

Beim Lesen der Zahlen muss man also bedenken, dass sich der Bau hier auf einen Drittel der Landesfläche konzentriert. Tatsächlich decken Bebauungen im Mittelland 16% des Bodens ab.

Stopp!

Für die Jungen Grünen der Schweiz ist die Alarmstufe erreicht. Die Karte des Schweizer Mittellands wirke durch die Ausdehnung der Gebäude wie ein von Motten zerfressener Stoff. Im Oktober 2016 reichten sie ihre Volksinitiative «Zersiedelung stoppen – für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung (Zersiedelungsinitiative)Externer Link» mit gut 113’000 gültigen Unterschriften bei der Bundeskanzlei ein.

Mit Unterstützung mehrerer Umweltschutz-Organisationen, der Kleinbauern-Vereinigung und den Jungsozialisten wollen die Jungen Grünen ein Verbot der Bauflächen-Vergrösserung in die Bundesverfassung schreiben – ohne zeitliche Begrenzung. Ausnahmen könnten für die Landwirtschaft oder den öffentlichen Sektor gemacht werden, jedoch nur, wenn eine gleichwertige Fläche Bauland ausgezont und in die Natur zurückgeführt würde. Die Initiative zielt auch darauf ab, die städtische Verdichtung und den nachhaltigen Wohnungsbau zu fördern.

Dieses Einfrieren von Bauzonen ist die radikalste Massnahme der Initiative, die auf grossen Widerstand stösst. Die Initianten verteidigen sie mit der Aussage, dass sie «den Weg zu einer moderaten Landnutzung weist», dass sie dazu beiträgt, «die Schweizer Landschaft und damit unsere Lebensqualität zu erhalten». Für sie sind die Bauzonen bereits überdimensioniert, und wenn man deren Ausbau nicht bremse, fördere man die Verbreitung des Baus, was zu mehr Verkehr, mehr Strassen und mehr Landverschwendung führe.

Auf das Argument, dass die Gefahr einer Verknappung besteht, wenn es nicht mehr möglich ist, Wohnungen zu bauen, antworten die Jungen Grünen, dass verdichtet gebaut werden müsse, beispielsweise auf den Industriebrachen der Städte. Diese neuen «nachhaltigen» Quartiere müssten durchmischt sein, nahe Arbeitsplätze und ein soziales Leben bieten sowie die Bauherren von der Verpflichtung befreien, zu viele Parkplätze zu bauen – denn schon heute habe in den Schweizer Grossstädten mehr als jeder zweite Haushalt kein Auto.


Bauen in der Schweiz – Swisstopo’s «Zeitreise»

Finden Sie einen Bereich auf der Karte und sehen Sie durch Ziehen des «Vorhangs», wie er sich im Laufe der Jahre seit den 1980er-Jahren entwickelt hat.

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Letzte Kampagne von Doris Leuthard

Die politischen Parteien haben sich noch auf keine Parolen für die Abstimmung am 10. Februar festgelegt, aber es zeichnet sich eine breite Ablehnung ab. Im Parlament wurde die Initiative nur von den Grünen und der Hälfte der Sozialdemokraten unterstützt, die andere Hälfte enthielt sich.

Die RegierungExterner Link empfiehlt eine Ablehnung der Initiative. Für die amtierende Umweltministerin Doris Leuthard, für die es die letzte Kampagne vor ihrer politischen Pensionierung sein wird, ist der Text «zu radikal, unfair und kontraproduktiv. Er dient nicht der Sache unseres Landes».

Gemäss der Bundesrätin ist das aktuelle Raumplanungsgesetz, dessen RevisionExterner Link das Stimmvolk 2013 angenommen hat, völlig ausreichend. Eine zweite Revision ist bereits geplant.

Im Gegensatz zum Vorschlag der Grünen, der die Bauzonen auf ewig einfrieren will, sieht das Raumplanungsgesetz vor, dass Einzonungen den voraussichtlichen Bedürfnissen der nächsten 15 Jahre entsprechen sollen, was der Umweltministerin realistischer erscheint.

Das von der Initiative geforderte Einfrieren würde auch Kantone und Gemeinden benachteiligen, die ihre Baugebiete bereits mit Zurückhaltung geplant haben. Andererseits würden diejenigen, die grosse Gebäudeflächen geplant haben, ungerechterweise begünstigt werden. «Die Initiative berücksichtigt nicht die regionalen Unterschiede: Nyon ist nicht Arosa», argumentierte die Ministerin.

Was die städtische Verdichtung betrifft, so erinnerte Doris Leuthard daran, dass viele Städte und Gemeinden sie bereits praktizieren. Aarau, die Hauptstadt ihres Herkunftskantons, ist nur ein Beispiel unter vielen.

«Die Schweiz nicht zum Fossil machen»

In weniger diplomatischer Sprache hat kürzlich ein bürgerliches Komitee gegen die Initiative Stellung bezogen. Für dieses ist der Text einfach «überflüssig und schädlich», und ihn zu akzeptieren, würde die Schweiz in ein Fossil verwandeln.

Das laut eigenen Angaben breit abgestützte nationale Komitee aus politischen Parteien und Verbänden stützt sich auf die gleichen Argumente wie der Bundesrat: Das Raumplanungsgesetz decke bereits die grundlegenden Anforderungen an eine nachhaltige Bodenbewirtschaftung ab. Die Initiative hingegen würde das Wirtschaftswachstum und die Arbeitsplätze gefährden, die Mieten erhöhen und die Hoffnung auf Wohneigentum für den Mittelstand zerstören.

Es wird wohl eine spannende Kampagne werden. Noch steht nicht fest, wer gewinnt. Im Jahr 2012 wurde der Initiative von Franz Weber, die auch darauf abzielte, das Baurecht durch die Begrenzung von Zweitwohnungen einzuschränken, nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Und doch überzeugte sie zur grossen Überraschung aller eine knappe Mehrheit von 50,6% der Stimmenden.


Der Initiativtext

Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:

Art. 75 Abs. 4–7

4 Bund, Kantone und Gemeinden sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für günstige Rahmenbedingungen für nachhaltige Formen des Wohnens und Arbeitens in kleinräumigen Strukturen mit hoher Lebensqualität und kurzen Verkehrswegen (nachhaltige Quartiere).

5 Anzustreben ist eine Siedlungsentwicklung nach innen, die im Einklang steht mit hoher Lebensqualität und besonderen Schutzbestim­mungen.

Die Ausscheidung neuer Bauzonen ist nur zulässig, wenn eine andere unversiegelte Fläche von mindestens gleicher Grösse und vergleichbarem potenziellem landwirtschaftlichem Ertragswert aus der Bauzone ausgezont wird.

7 Ausserhalb der Bauzone dürfen ausschliesslich standortgebundene Bauten und Anlagen für die bodenabhängige Landwirtschaft oder standortgebundene Bauten von öffentlichem Interesse bewilligt werden. Das Gesetz kann Ausnahmen vorsehen. Bestehende Bauten geniessen Bestandesgarantie und können geringfügig erweitert und geringfügig umgenutzt werden.

(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)

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