Zweite Hürde für die Präimplantations-Diagnostik
Ein Jahr nach der Annahme des Verfassungsartikels zur Präimplantations-Diagnostik (PID) muss sich diese Praxis erneut der Prüfung an der Urne stellen. Kreise, die das Recht auf Leben verteidigen, haben das Referendum ergriffen. Aber sie sind nicht die einzigen, die auf die Barrikaden steigen. Von rechts bis links gibt es Parlamentarier, denen die Vorlage zu weit geht.
Sie kündigten es vor der Abstimmung im Juni 2015 an, und nun haben sie es getan: Als der VerfassungsartikelExterner Link von 61,9%Externer Link der Stimmenden angenommen wurde, haben die christlich-konservativen Kreise sogleich die Frage des ReferendumsExterner Link gegen die Änderung des Fortpflanzungsmedizin-GesetzesExterner Link aufgeworfen. Im Dezember 2015 deponierten sie mehr als 58’000 gültige Unterschriften bei der Bundeskanzlei, das sind 8000 mehr als das vorgeschriebene Minimum.
Warum ein Jahr später nochmals über eine Sache abstimmen, die bereits abgehakt schien? Vor dem Verdikt vom Juni 2015 war die Schweiz das letzte europäische Land, in dem die Präimplantations-Diagnostik (PID) verboten war. Zwar öffnet der Verfassungsartikel ihr nun die Tür, aber er sagt nichts über die Details der Umsetzung, die im Gesetz geregelt werden. In der ersten VersionExterner Link wollte der Bundesrat (die Regierung) die PID nur Paaren erlauben, die Träger einer schweren Erbkrankheit sind, die vor dem 50. Lebensjahr ausbrechen wird und für die es keine Behandlungsmöglichkeiten gibt.
Doch das Parlament wollte mehr. Das von den Parlamentariern angenommene definitive GesetzExterner Link sieht vor, dass alle im Reagenzglas gezeugten Embryonen mit allen verfügbaren genetischen Techniken untersucht und selektiert werden können. Auf diese Weise könnten beispielsweise Embryonen mit dem Down-Syndrom (Trisomie 21) schon vor einer Einpflanzung aussortiert und zerstört werden.
Vielfalt, Gleichheit, Solidarität
Damit hat sich das Feld der Gegner plötzlich erweitert. Man muss sich nicht mehr auf das Alte Testament berufen oder Vergleiche mit den Eugenik-Hirngespinsten der Nazis heranziehen – wie es die Evangelikalen der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU)Externer Link machen – um die Gesetzesrevision abzulehnen.
Bemerkenswert ist die Haltung der verschiedenen Behindertenorganisationen. Während sie 2015 über den Verfassungsartikel noch geteilter Meinung waren, befinden sie sich dieses Mal fast ausschliesslich auf der Seite der Gegner. Ihr Wunsch: «Eine integrierende und solidarische Gesellschaft», in der «Personen mit und ohne Behinderung auf Augenhöhe» zusammenleben.
Auch in den Reihen der Politiker gibt es einige, die das Gesetz bekämpfen, obwohl sie den Verfassungsartikel unterstützt haben. Das ist der Fall bei Mathias ReynardExterner Link, der darin keinen Widerspruch sieht: «Es geht nicht darum, fundamentalistische Positionen zu verteidigen. Die Fundamentalisten führen einen verspäteten Kampf. Ich habe den Verfassungsartikel unterstützt, weil ich die PID für Paare befürworte, die ein Risiko für eine schwere Erbkrankheit haben. In diesen spezifischen Fällen ist sie in meinen Augen vollkommen gerechtfertigt. Aber das Parlament ist zu weit gegangen», erklärt der Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP) und Co-Präsident des überparteilichen KomiteesExterner Link «Nein zu diesem Fortpflanzungsmedizingesetz».
Ein Komitee, das die Bezeichnung «überparteilich» verdient: In Bezug auf die ethischen Fragen lässt sich die PID tatsächlich nicht in rechts oder links einteilen. Die persönlichen Werte siegen eindeutig über die Empfehlungen der Parteien. Man findet daher im Komitee Vertreter des ganzen politischen Spektrums, keine Gruppe überwiegt die anderen.
Auch der Titel der Kampagne bringt das Programm klar zum Ausdruck: Nein zu «diesem» Fortpflanzungsmedizin-Gesetz. «Ich war zu 100% für die Vorlage des Bundesrats. Und wenn am 5. Juni das Gesetz abgelehnt wird, bin ich bereit, mich für eine neue Version einzusetzen», bekräftigt Reynard.
«Ein Rückschritt für die Rechte der Frauen»
«Man nimmt das Gleiche und beginnt von neuem. Warum haben sie das Referendum ergriffen, wenn sie doch sehen, dass mehr als 60% der Leute für den Verfassungsartikel gestimmt haben?», fragt sich Isabelle ChevalleyExterner Link vom überparteilichen Komitee «Nochmals Ja zum Fortpflanzungsmedizingesetz»Externer Link.
Obwohl sie bereit ist, «zurück in den Wahlkampf zu gehen, um zu erklären», kann die Parlamentarierin der Grünliberalen (GLP) ein Gefühl der Gereiztheit nicht zurückhalten. Gereizt gegenüber «all diesen Männern, die ethische Prinzipien verteidigen, aber die dem physischen und psychischen Leiden der Frauen keine Beachtung schenken.» Für sie würde die Ablehnung des Gesetzes «einen klaren Rückschritt für die Rechte der Frauen» bedeuten.
«Heute haben wir die Pränatal-Diagnostik und das Recht auf Abtreibung in den ersten 12 Schwangerschaftswochen – zur Erinnerung: Das wurde in einem langen Kampf erreicht. Ich sehe nicht ein, warum man ein Paar zwingen sollte, ein Kind mit Trisomie 21 einzupflanzen. Damit hätte ein einen Tag alter Embryo Anrecht auf mehr Schutz als ein Fötus von drei Monaten. Das ist nicht seriös», argumentiert Chevalley.
Risiko von Abtreibungen?
«Das Gesetz, über das wir abstimmen, weicht erheblich vom ursprünglichen Willen des Bundesrats ab», gibt Mathias Reynard zu bedenken. «Vor allem gelangen wir von einem eingeschränkten Zugang gemäss strikten Kriterien zu einem Gelegenheitsprinzip, indem wir das ‹Screening› allen Paaren anbieten, die eine In-vitro-Befruchtung machen. Ich befürchte, dass wir damit eine beunruhigende Sache lostreten.»
Ausserdem zeigt sich der Parlamentarier «sehr sensibel» gegenüber den Argumenten der Behindertenorganisationen. «Wenn man die PID breit erlaubt, müssen sich Eltern von behinderten Kindern sagen lassen, ‹ihr habt es gewählt›.»
Diese Befürchtungen fegt Isabelle Chevalley vom Tisch: «Die Gegner geben vor, die Geburt eines Kindes mit Trisomie 21 zu verhindern, sei Eugenik. Aber es gibt im Gesetz genügend Schutzmassnahmen, um Abtreibungen zu verhindern.»
Über das Argument, Behinderte würden stigmatisiert, wenn sie weniger zahlreich sind, kann die grünliberale Parlamentarierin nur den Kopf schütteln. Ihrer Meinung nach müssten sich die Behindertenorganisationen über jeden technischen Fortschritt freuen, mit dem Behinderungen zurückgehen. «Als ich das zum ersten Mal in der Kommission gehört habe, sagte ich mir, dass sie es nicht wagen würden, das Argument in der öffentlichen Debatte vorzubringen. Doch nun sind wir soweit! Auch das ist nicht seriös.»
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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