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Verschleierungsverbot in Frankreich führte zum «Protest-Niqab»

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Niqab-Trägerin in Paris. Am 7. März stimmt die Schweiz über ein Verbot der Vollverschleierung ab. Nur ganz wenige Frauen tragen hier solche, die meisten von ihnen sind Touristinnen. Agnès De Féo

Die Schweiz stimmt am 7. März über ein Verbot der Vollverschleierung des Gesichts ab. Es zielt in erster Linie auf Musliminnen. Aber auch vermummte Demonstrierende und Fussball-Hooligans wären betroffen. In Frankreich ist ein solches Verbot seit zehn Jahren in Kraft. Wir schauen, wie es sich ausgewirkt hat – und sehen Überraschendes.

Am 11. Oktober 2010 wurde in Frankreich die Verschleierung des Gesichts im öffentlichen Raum verboten. Davor trugen zwischen 350 und 2000 Frauen die Burka oder den Niqab in der Öffentlichkeit.

Sowohl die damals regierende Rechte als auch ein Teil der Linken stimmten im Parlament für das Verbot. Laut Meinungsumfragen steht auch eine Mehrheit der französischen Bevölkerung hinter dem entsprechenden Gesetz.

Frauen, die ihr Gesicht verdecken, müssen seither mit einer Busse von 150 Euro und einem Sozialeinsatz bei den Behörden rechnen. Von 2011 bis 2017 wurden nach Angaben des französischen Innenministeriums 1977 Kontrollen auf Grundlage des Gesetzes durchgeführt. Sie betrafen 1000 Frauen und führten zu 1830 gebührenpflichtigen Verwarnungen.

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Umfrage: Verbot von Burka und Nikab in der Schweiz möglich

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht 56 Prozent der Stimmberechtigten würden einem Verbot von Burka und Nikab heute zustimmen. Dieses und weitere Ergebnisse der Umfrage zur Abstimmung vom 7. März.

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Abgesehen von den Zahlen hat sich das Verbot als kontraproduktiv erwiesen. Weit davon entfernt, den Vollschleier verschwinden zu lassen, hat das Gesetz ein neues Phänomen geschaffen: den Protest-Niqab, so die französische Soziologin Agnès De Féo. «Das Verbot führte dazu, dass mehr Frauen den Vollschleier tragen. Und in einigen Fällen haben sich Frauen durch das Verbot gar radikalisiert.»

Für ihr Buch «Derrière le niqab» («Hinter dem Niqab») befragte De Féo in der letzten Dekade im ganzen Land rund 200 Frauen mit Gesichtsverschleierung. Die Frauen, die sie traf, entsprachen ganz und gar nicht dem verbreiteten Klischee über die muslimischen Trägerinnen von Vollverschleierung, die ihren Männern Untertan sind und einen radikalen Islam praktizieren.

Vor allem heiratswillige Konvertitinnen

«Ich habe vor allem unverheiratete Frauen getroffen, die teilweise zum Islam konvertiert sind», so die Forscherin. «Viele tragen den Niqab in der Hoffnung, den Mann ihrer Träume zu treffen – dieser soll fromm sein, möglichst Salafist.»

Für diese Frauen ist der Gesichtsschleier nicht unbedingt Ausdruck eines intensiven Bekenntnisses zur Religion. «Der religiöse Diskurs der konvertierten Frauen ist oft oberflächlich und ihr Wissen über die Korantexte elementar», so De Féo.

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Bei ihnen ist der Niqab Teil ihrer Heiratsstrategie, der Druck des familiären Umfelds ist sekundär. Das Verbot vermochte nichts daran zu ändern – im Gegenteil. «Es wirkte sogar als Anreizeffekt. Mehr Frauen trugen den Niqab, nachdem das Gesetz in Kraft getreten war. Das Verbot hatte Anziehungskraft, und es ging auch um Solidarität mit der stigmatisierten muslimischen Gemeinschaft.»

De Féo glaubt, dass dieses Phänomen durchaus auch in der Schweiz auftreten könnte, sollte die Volksinitiative zum Verbot der Burka und des Niqab am 7. März von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen werden. «Das Verbot und die Berichterstattung der Medien werden bei den Menschen den Wunsch stärken, die eigene Identität auf sichtbare Weise zu behaupten», sagt die Soziologin. In der Schweiz gibt es nach Schätzungen von De Féos Kollege Andreas Tunger-Zanetti nur ein paar Dutzend Frauen, die den Vollschleier tragen.

Jilbab statt Niqab

In Frankreich hat das Phänomen seit 2017 an Amplitude verloren. Nach den erfolgreichen Offensiven der Terrororganisation «Islamischer Staat» in Syrien und im Irak ab 2012 hat sich die Verschleierungsfrage zuletzt etwas relativiert. «Für muslimische Frauen in Europa wirkt es abschreckend, wenn sie sehen, wie die Ehefrauen von Dschihadisten in den Lagern in Syrien oder der Türkei elendiglich enden», sagt De Féo.

Umso mehr, als ein anderes Kleidungsstück allmählich den Platz des verbotenen Niqab einnimmt: der Jilbab. Im Gegensatz zum Vollschleier lässt der Jilbab, der bis zum Boden reicht, das Oval des Gesichts erkennen, verbirgt aber den Rest des weiblichen Körpers.

«Er verbreitete sich als Erkennungszeichen des Salafismus in Frauenkreisen in Frankreich mit der salafistischen Welle nach der Jahrtausendwende und ersetzte den verbotenen Niqab», schreibt der Soziologe Bernard Rougier in von ihm herausgegebenen Buch «Les territoires conquis de l’islamisme» («Das vom Islamismus eroberte Land»).

«Ich sehe tatsächlich nicht mehr viele Frauen im Niqab, dafür mehr und mehr Frauen im Jilbab,» bestätigt De Féo. Weil so ihr Gesicht sichtbar sei, riskierten sie keine Bussen. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie tragen auch die Frauen im Jilbab Schutzmasken. «Es ist ein bisschen so, als ob der Niqab zur Pflicht geworden ist», schmunzelt die Soziologin.

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