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Alain Berset: «Ich habe beispiellose Aggressivität erlebt»

Alain Berset Interview 4
Thomas Kern/swissinfo.ch

Nach zehn Jahren in der Regierung übernimmt Alain Berset ab heute zum zweiten Mal die Rolle des Bundespräsidenten. Der sozialdemokratische Bundesrat blickt auf die aggressiven Drohungen zurück, denen er während der Pandemie ausgesetzt war, spricht über seine Rolle an der Spitze des Landes und die instabilen Zeiten, die wir derzeit durchleben.

swissinfo.ch: Sie sind nun der amtsälteste Bundesrat. In den letzten zwei Jahren mussten Sie unter anderem die Covid-19-Pandemie managen, viel Kritik einstecken und damit leben, dass die Medien ausführlich über Ihre privaten Affären berichteten. Haben Sie nach all dem noch die Energie zu regieren?

Alain Berset: Ich bin in der Tat das erfahrenste, aber auch das jüngste Mitglied des Bundesrats. Ich habe noch immer die nötige Energie, um meine Arbeit fortzuführen. Kontinuität im Kollegium ist zudem wichtig, insbesondere jetzt, da wir uns in einer Phase der Instabilität befinden. Erfahrung ist eine grosse Stärke, um diese Situation zu bewältigen.

Die Möglichkeit, mehr als ein Jahrzehnt lang zu regieren, ist eine schweizerische Besonderheit. In den Nachbarländern gibt es häufigere Wechsel. Ist diese Langlebigkeit eine gute Sache?

Diese Stabilität ist eine der grossen Stärken unserer Institutionen. Sie ist auch ein Vorteil in den Beziehungen zu anderen Ländern. Wir kennen die Dossiers, deren Geschichte sowie die anstehenden Arbeiten.

Alain Berset Portrait
Thomas Kern/swissinfo.ch

Unter welchem Zeichen möchten Sie Ihr Präsidentschaftsjahr verbringen?

Ich war schon immer vorsichtig mit Slogans und habe kein fixfertiges Motto. Die Erfahrung lehrt uns, dass jedes Jahr eine Reihe von Überraschungen mit sich bringt. Nach der Pandemie und in der instabilen Situation, in der wir uns befinden, ist es die Aufgabe des Bundespräsidenten, den sozialen Zusammenhalt im Land zu stärken. Der Kampf gegen Ungleichheiten sowie das Engagement für einen gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung, zur Bildung oder zur Kultur waren immer schon zentrale Themen für mich.

Sie werden weiterhin das Eidgenössische Departement des Innern leiten. In Ihrer Partei hätten sich jedoch einige gewünscht, dass Sie das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten übernehmen. War das Ihre Entscheidung oder wurde Ihnen das von der rechten Regierungsmehrheit aufgezwungen?

Ich werde Ihnen nichts über die Diskussionen im Bundesrat sagen. Diese sind vertraulich. Es ist unsere Aufgabe die Departemente so verteilen, dass es das Land stärkt. Das ist das Einzige, was zählt. Im Übrigen betrachte ich es als Privileg, das Eidgenössische Departement des Innern zu leiten, da es sich um das Departement handelt, das den Alltag der Menschen am meisten betrifft.

Wenn Sie an der Spitze des Eidgenössischen Departements des Innern bleiben, werden Sie sich erneut mit dem komplexen Rentendossier befassen müssen. Nachdem Sie die AHV-Reform gegen den Willen Ihrer Partei durchpeitschen mussten, werden Sie die Bürgerlichen mit Ihrem Reformprojekt für die zweite Säule überzeugen können?

Mit der AHV21 ist es zum ersten Mal seit fast 30 Jahren gelungen, eine Reform der ersten Säule durchzubringen, welche ihre Finanzierung stabilisiert. Das ist eine gute Sache, da es sich um unsere sozialste Versicherung handelt. In Bezug auf die zweite Säule ist es dem Bundesrat gelungen, die Sozialpartner für eine Vorlage zu gewinnen, die sowohl Frauen als auch Geringverdienenden zugutekommt.

Niemand bestreitet, dass eine Reform der beruflichen Vorsorge notwendig ist. Wir müssen sie so durchführen, dass die Renten gesichert sind. Die Menschen leben von Franken und Rappen am Ende des Monats und nicht von Prinzipien. Auch wenn es im Parlament nicht einfach ist, müssen wir zu einer Reform kommen, die vor dem Volk mehrheitsfähig ist.

Alain Berset Interview 5
Thomas Kern/swissinfo.ch

Im Verlauf der Pandemie waren Sie Zielscheibe zahlreicher Kritik und Drohungen. Sie mussten sogar unter Polizeischutz gestellt werden. Gab es Momente, in denen Sie entmutigt waren und am liebsten alles hingeworfen hätten?

Um ehrlich zu sein, ja. Ich habe Momente erlebt, die sehr aggressiv waren. Dazu haben wohl auch gewissen Äusserungen von Politikern beigetragen. Ich habe durchgehalten, weil ich ein hervorragendes Team um mich habe und weil es darum ging, das Beste für das Land zu tun.

Man kann nicht nur Bundesrat sein, um ein neues Gebäude einzuweihen oder schöne Feste zu feiern. Wir sind gerade auch für die schwierigen Zeiten da. Man muss auch sagen, dass ich mich von der gesamten Regierung unterstützt gefühlt habe. Während dieser Zeit war der Bundesrat viel enger zusammengerückt, als man sich das manchmal vorstellt.

Was war für Sie der schwierigste Moment während der Covid-19-Krise?

Es gab eine Arbeitsbelastung, von der ich nie gedacht hätte, dass sie zu bewältigen wäre. Dazu kam ein politischer Druck, der alles übertraf, was ich je zuvor erlebt hatte. Aber das sind Dinge, mit denen man umgehen kann. Am schwierigsten war der Moment, als in der aufgeheizten Stimmung eine kleine Gruppe isolierter Personen begann, Drohungen auszusprechen. Das entspricht nicht dem schweizerischen Geist.

Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir das einzige Land der Welt sind, in dem die Pandemie-Massnahmen zweimal einer Volksabstimmung unterzogen wurden. Und das mitten in der Krise.

Alain Berset Interview 1
Thomas Kern/swissinfo.ch

Die Covid-Krise ist unter Kontrolle, aber das Land muss sich nun mit anderen Krisen auseinandersetzen: Klimakrise, Energiekrise, Krieg in der Ukraine, Inflation. Ist das Regieren im Krisenmodus zum Normalfall geworden?

Ich denke schon, auch wenn man nicht sagen kann, dass vor der Pandemie alles in Ordnung war und dass wir uns jetzt in einer Dauerkrise befinden. Wir haben bereits in der Vergangenheit schwierige Zeiten erlebt, aber die Auswirkungen auf die Gesellschaft waren anders als während der Pandemie. Im Übrigen war die Lage in der Ukraine bereits 2014 gravierend. Der Angriffskrieg vom Februar 2022 hat allerdings Dimensionen angenommen, die uns enorm beunruhigen. Wir sind nun auf diese Unsicherheit sensibilisiert und bereiten uns vor.

Ist das föderalistische System der Schweiz in der Lage, mit dieser neuen Situation umzugehen?

Es ist ein resilientes System, das auf neue Situationen gut reagieren kann. Wir sind vielleicht nicht immer so schnell wie andere, aber wir haben auch während der Coronavirus-Krise gesehen, dass der Föderalismus keine Bremse ist. Ähnlich wie während der Pandemie müssen wir nun lernen, unseren Föderalismus auf eine etwas andere, flexiblere Art und Weise zu leben.

In diesem Winter und wahrscheinlich auch in den folgenden Wintern werden die Schweizer:innen mit einer drohenden Energieknappheit leben müssen. Ist das Land auf eine Energiekrise vorbereitet?

Die Energiefrage beschäftigt uns schon seit langem, noch vor dem Krieg in der Ukraine. Es ist davon auszugehen, dass sich die Energiepreise auf einem hohen Niveau stabilisieren werden. Was die Versorgung angeht, haben der Bundesrat, die Kantone und die betroffenen Unternehmen jedoch alles Notwendige getan. Wir müssen zwar weiterhin vorsichtig sein und uns an die Empfehlungen halten, aber ich glaube, dass wir diesem Winter relativ gelassen entgegensehen können.

Interview Berset 2
Thomas Kern/swissinfo.ch

Auch wenn die Schweiz diesen Winter ohne Engpässe übersteht, ist das Problem damit nicht vom Tisch. Welche langfristigen Lösungen gibt es?

Die Schweiz hat eine Stärke, um die uns viele andere Länder beneiden: Wir haben einen sehr hohen Anteil an Wasserkraft in unserem Energiemix. In den letzten Monaten wurde beeindruckende Arbeit geleistet, um die Stauseen auf ihren Höchststand zu bringen, obwohl sie zu dieser Jahreszeit normalerweise nicht voll sind. Wir können also Reserven bilden, aber das reicht nicht aus.

Die Diversifizierung der Energiequellen ist zentral, und unser Land hat bei den erneuerbaren Energien noch einiges zu tun. Die Energiestrategie des Bundesrates muss nun umgesetzt werden. In dieser Frage ist es auch äusserst wichtig, dass wir mit den Ländern um uns herum in Kontakt bleiben. Wir sind Teil eines globalen Netzwerks, Isolation ist keine Option.

Als Bundespräsident werden Sie 2023 auch eine zentrale Rolle im EU-Dossier spielen müssen. Ist eine baldige Wiederaufnahme der Verhandlungen denkbar, nachdem das Rahmenabkommen im Mai 2021 gescheitert ist?

Die Schweiz hat ein zentrales Interesse an einer stabilen und gut strukturierten Beziehung zur Europäischen Union. Seit einigen Monaten führen wir Sondierungsgespräche mit Brüssel, die gewisse Fortschritte zeigen. Der Bundesrat wird nun eine Bilanz dieser Gespräche ziehen und prüfen, wie die Gespräche weitergeführt werden können.

Interview Berset 3
Thomas Kern/swissinfo.ch

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine war die Schweizer Neutralität Zielscheibe zahlreicher Kritik aus dem Ausland. Der Bundesrat hat vorerst beschlossen, seine Neutralitätspolitik nicht zu ändern. Ist der Status quo in Bezug auf die Neutralität haltbar?

Es ist die einzige Option! Die Schweiz ist ein Land mit einer sehr langen humanitären Tradition. Ihre Rolle in internationalen Konflikten ist konstant und klar, was eine grosse Stärke darstellt. Die Schweiz ist neutral, aber nicht gleichgültig! Der Konflikt in der Ukraine hat uns dies besonders deutlich vor Augen geführt.

Alain Berset wurde 1972 in Freiburg geboren, ist verheiratet und hat drei Kinder. Er studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Neuenburg. Nach einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter und politischer Berater wurde er 2003 in den Ständerat gewählt, der kleinen Kammer des schweizerischen Parlaments.

2011 wurde Berset in die Landesregierung gewählt. Der damals 39-jährige Freiburger wurde einer der jüngsten Bundesräte der Geschichte. Seither leitet er das Eidgenössische Departement des Innern, wo er unter anderem für Gesundheit, Sozialversicherungen und Kultur zuständig ist.

Berset war 2018 ein erstes Mal turnusmässig Bundespräsident. Am 7. Dezember wurde er von der Bundesversammlung ein zweites Mal für das Jahr 2023 in dieses Amt gewählt. Er erhielt 140 Stimmen von 181 gültigen Stimmzetteln. Der Freiburger hatte bei seiner ersten Wahl zum Präsidenten im Jahr 2018 ein deutlich besseres Ergebnis erzielt (190 Stimmen von 210 gültigen Wahlzetteln).

Adaptiert aus dem Französischen von Sibilla Bondolfi.

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