«Die Roma wurden zur idealen Zielscheibe»
Ein Transitplatz für Fahrende Ja oder Nein? Diese Frage stellt sich am 9. Februar dem Stimmvolk des Kantons Bern. Das umstrittene Projekt bringt die in der Schweiz und in Europa aufgeheizte Stimmung gegen Fahrende ans Licht. Interview mit einem Experten für Antiziganismus.
Der Plan für den Bau eines Transitplatzes für ausländische Fahrende sorgt im Kanton Bern für Spannungen. Am 9. Februar stimmen die Bernerinnen und Berner ab über einen Kredit von rund 3,33 Millionen FrankenExterner Link für die Planung, Projektierung und Realisierung eines Transitplatzes neben der Autobahn in der Gemeinde Wileroltigen.
Der Transitplatz soll 36 Stellplätze für Fahrende aus dem Ausland bieten, die während der Sommermonate in der Schweiz arbeiten. Sowohl die lokalen Behörden wie auch die Junge Schweizerische VolksparteiExterner Link (JSVP, rechtskonservativ) des Kantons Bern sind dagegen. Die JSVP ergriff das Referendum gegen die Vorlage.
Zu wenig Plätze
Fahrende haben es in der Schweiz nicht leicht, denn es fehlt an Stand- und Transitplätzen. Das führt zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung und zwischen den verschiedenen Gruppen von Fahrenden. Die Kantone sind rechtlich dazu verpflichtet, Plätze zur Verfügung zu stellen. Doch die Projekte stossen sehr oft auf heftigen Widerstand der Gemeinden und ihrer Einwohner.
Im Fall von Wileroltigen zeigten die heftigen Reaktionen um Plätze für ausländische fahrende Roma, Sinti und Jenische «einmal mehr, dass Antiziganismus in der Schweiz zunimmt», schreibt die Gesellschaft für bedrohte VölkerExterner Link. Dieser Rassismus sei «ein strukturelles Problem, das zu wenig ernst genommen wird».
Zwei Präsidenten der Jungen SVP des Kantons Bern wurden wegen Rassendiskriminierung verurteiltExterner Link, nachdem sie eine Karikatur publiziert hatten. Das Bild zeigte einen Schweizer, der sich neben Wohnwagen, die mit Müll übersät sind, die Nase zuhält. Im Hintergrund erledigt ein kleiner dunkelhäutiger Mann sein Geschäft. Die Politiker haben beim Bundesgericht Berufung eingelegt.
Die Abneigung oder Feindschaft gegenüber Sinti und Roma, Antiziganismus genannt, ist ein Thema, mit dem sich besonders der EuroparatExterner Link beschäftigt. Er hat mehrere Programme zur Bekämpfung der Diskriminierung von Roma und Fahrenden in den verschiedenen Ländern der Europäischen Union (EU) aufgelegt.
Samuel DelépineExterner Link ist Leitender Dozent für Sozialgeografie an der Universität von Angers in Frankreich. Er ist Autor des «Atlas des Tsiganes»Externer Link und eines EssaysExterner Link. Er verbindet in den Texten den Aufstieg des Populismus in einigen europäischen Ländern mit dem Aufstieg des Antiziganismus.
swissinfo.ch: Was genau ist damit gemeint, wenn man heute von Antiziganismus spricht?
Samuel Delépine: Die Ablehnung der so genannten Fahrenden ist leider historisch bedingt. Diese Bevölkerungsgruppen durchlebten eine sehr schmerzhafte Vergangenheit in Europa, besonders mit ihrer Vernichtung während des Zweiten Weltkriegs. Reiner Rassismus existiert auch heute noch, aber er ist auch ein Thema, das sich im Lauf der Zeit entwickelt hat.
Antiziganismus ist ein Begriff von anfangs der 2000er-Jahre. Er ist vor allem im Europarat entstanden. Wie der Antisemitismus beschreibt er die Ablehnung einer Bevölkerungsgruppe als das, was sie ist. Es ist ein Wort, das mit der Identifizierung einer einheitlichen und homogenen Minderheit auf europäischer Ebene durch die europäischen Behörden zusammenhängt, aber das Phänomen selbst ist älter.
swissinfo.ch: Hat sich die Europäische Union deshalb für die Roma und Fahrenden interessiert und diese Kategorie geschaffen?
S.D.: Der Prozess der Kategorisierung hat sich im Lauf des 20. Jahrhunderts entwickelt. Während des Zweiten Weltkriegs kümmerten sich die Nazis nicht besonders um die Diversifizierung dieser Bevölkerungsgruppen: Sie wollten schlicht die «Zigeuner» ausrotten.
Heute sind die Intentionen anders gelagert. Aber wir befinden uns immer noch in einem Prozess der Kategorisierung, der darin besteht, eine europäische ethnische Minderheit zu identifizieren. Meiner Meinung nach ist das ein Fehler.
Natürlich ermöglicht das, gewisse Programme in den Bereichen Bildung, Unterkunft und Arbeit zu finanzieren. Doch es erleichtert zuallererst einmal die Identifizierung einer bestimmten Minderheit und schürt so den Antiziganismus.
Natürlich ist nicht die EU daran schuld, wenn es zu Antiziganismus kommt. Doch die Tatsache, dass man eine eindeutige Kategorie geschaffen hat, ermöglicht es beispielsweise den Populisten und Nationalisten, sehr einfach eine Zielscheibe zu finden.
Mehr
Zu wenig Platz für Fahrende in der Schweiz
swissinfo.ch: Das Ziel war aber eigentlich, diesen Bevölkerungsgruppen dort zu helfen, wo sie diskriminiert werden. Denken Sie, die Massnahme hat nicht den gewünschten Effekt gebracht?
S.D.: Die Ziele waren und sind immer noch sehr lobenswert, aber sie führten zu perversen Auswirkungen. Auf lokaler Ebene, besonders in Mittel- und Osteuropa, hat die Durchführung von Projekten speziell für die Roma möglicherweise zu Ablehnung geführt: Warum sie und nicht wir? In diesem Kontext wurden die Roma zur Zielscheibe der Populisten, welche die Institution EU wie auch die Gemeinschaften ablehnen, welche die EU unterstützt und finanziert.
Die Roma wurden zur idealen Zielscheibe, eine Art innerer Feind, eine Bedrohung, diese anderen, die nicht «wie wir» sind. Auch wenn heute in vielen populistischen Diskussionen die Fahrenden durch eine andere, ebenfalls abgelehnte Gruppe ersetzt werden: Migranten, namentlich Muslime. Trotzdem hat der Antiziganismus in den Gesellschaften vieler europäischer Länder nicht abgenommen.
swissinfo.ch: Die EU benutzt häufig den Begriff Roma und Fahrende. Sie sagen, es gebe keine einheitliche ethnische Minderheit. Welche Gruppen fallen also unter diese Benennung?
«Die Roma wurden zur idealen Zielscheibe, eine Art innerer Feind, eine Bedrohung, diese anderen, die nicht ‹wie wir› sind.»
S.D.: Ich sage nicht, dass es keine gemeinsame Charakteristik gibt. Es gibt Brücken zwischen diesen Gemeinschaften. Aber es sind vor allem die Menschen in den Ländern, durch die sie gereist sind und in denen sie sich aufgehalten haben, die ihnen diese Bezeichnungen gaben.
Ich sage nicht, dass es keine Gemeinsamkeiten gibt zwischen einem Gitan aus Andalusien, einem kosovarischen Rom und einem Manouche aus der Bretagne. Ich denke aber, dass es ein Fehler ist zu sagen, dass all diese Menschen der gleichen Minderheit angehören.
Man kann verstehen, dass eine supranationale Institution das braucht, um aktiv werden zu können. Wenn sie Gruppe für Gruppe betrachtet, wird sie ihre Ziele nie erreichen. Die Kehrseite der Medaille ist aber, dass der Antiziganismus zunimmt.
swissinfo.ch: Die Begriffe Roma und Fahrende werden oft als Synonyme verwendet. Ist das auch diskutabel?
S.D.: Hier liegt der Hauptfehler. Auf Europäischer Ebene sind die fahrenden Gemeinschaften wirklich eine Minderheit. Rumänische Fahrende zum Beispiel gibt es nicht. Der Begriff wird in der Schweiz, in Frankreich und Belgien benutzt.
In Frankreich sind die Fahrenden eine administrative Kategorie, die in Tat und Wahrheit eine ethnische Kategorie ist, die diesen Namen aber nicht trägt. Das führt zu viel Verwirrung, denn auch wenn das historische Gesetz von 1969 über dieses Statut ausser Kraft gesetzt wurde, bleibt die Kategorie bestehen.
swissinfo.ch: Sie stehen der Ethnisierung dieser Bevölkerungsgruppen sehr skeptisch gegenüber. Was wäre für Sie der beste Ansatz?
«Die permanente Ethnisierung ermöglicht keine soziale Veränderung.»
S.D.: Ich studiere das Thema seit Jahren. Und ich habe den Eindruck, dass dieser ethnische Schleier, dieses primäre Image der Roma, als gefestigtes Wissen gilt und sogar die Politik beeinflusst. Die sozialen Fragen werden dabei ignoriert.
Die kulturelle und ethnische Frage existiert, man darf sie nicht unter den Teppich wischen. Das Problem ist, dass man sie alimentiert. Es geht nicht darum, die Kategorisierungen oder die kulturellen Eigenheiten zu ignorieren, denn irgendwann werden das soziale Fragen: Arbeitslosigkeit, Zugang zu Bildung, berufliche Qualifikationen, Zugang zu Gesundheitsleistungen. Die permanente Ethnisierung ermöglicht keine soziale Veränderung.
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch