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Warum hilft die Schweiz bei Reformen in der Ukraine?

«Die Sicherheit der Ukraine ist auch unsere Sicherheit»

ein Mann vor Frauen
Claude Wild in der Botschaft in Kiew vor einem Bild der Schweizer Fotografin Isabelle Tausch, das ukrainische Frauen als Hoffnungsträgerinnen zeigt. Eva Hirschi

Eine Lösung des Konflikts in der Ostukraine ist auch für die Schweiz und sogar für ganz Europa wichtig, sagt Botschafter Claude Wild. SWI swissinfo.ch hat ihn in Kiew getroffen.

swissinfo.ch: Die Schweiz war durch die Präsidentschaft der OSZE 2014 ein wichtiger Akteur im Hinblick auf den Friedensprozess in der Ukraine. Wie sehen die Beziehungen zwischen der Ukraine und der Schweiz heute aus?

Claude Wild: Die Beziehungen sind sehr gut, die Schweiz verfügt über eine starke Präsenz hier. In der Schweiz geht die Ukraine aber oft vergessen, man ist zu stark auf Moskau konzentriert, dabei handelt es sich bei der Ukraine um ein sehr grosses Land in Europa, fast so gross wie Frankreich. Mit dem Flugzeug ist man von Zürich in rund zwei Stunden in Kiew, das ist schneller als nach Helsinki, Dublin oder Lissabon.

In unserem Kopf herrscht immer noch diese Barriere zum ehemaligen Ostblock, dabei verdient dieses Land grössere Aufmerksamkeit. Während der Zarenzeit und der Zeit der Sowjetunion galt die Ukraine als die Wiege des russischen Reichs, doch das sieht nur aus russischer Perspektive so aus. Die Ukraine sieht sich in einem anderen historischen Narrativ und lässt sich viel eher mit der Schweiz vergleichen, ein Vielvölkerstaat mit verschiedenen Kulturen und landschaftlicher Vielfalt.

swissinfo.ch: Für Sie ist die Ukraine also ganz klar ein Teil Europas?

C.W.: Ja. Das Gebiet der heutigen Ukraine war geografisch und kulturell stets ein Teil Europas. Die Sicherheit der Ukraine ist auch unsere Sicherheit, der Wohlstand der Ukraine ist auch unser Wohlstand. Für die europäische Sicherheitsarchitektur ist die Ukraine deshalb sehr wichtig, denn sollten sich in diesem Land die Instabilitäts- und die Armutsspiralen zu drehen beginnen, dann kann das für die EU-Nachbarländer ansteckend sein und zu Instabilität in der ganzen Region führen. Unser Interesse liegt deshalb darin, das Land in seiner Transition zu unterstützen und zu helfen, den Konflikt in der Ostukraine zu lösen.

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swissinfo.ch: Wie macht das die Schweiz?

C.W.: Die Schweiz konzentriert sich in Bezug auf die europäische Sicherheitsarchitektur auf Nischen, in denen sie sich parallel für die Deeskalation und für die Beendigung des Konflikts engagieren kann. Als die Schweiz 2014 mit dem damaligen Bundespräsidenten Didier Burkhalter die Präsidentschaft der OSZE innehatte, hat dies bereits viel zur Deeskalation beigetragen.

Man hat es geschafft, einen Waffenstillstand auszuhandeln [der allerdings nicht eingehalten wird, Anm. d. Redaktion] und einen Monitoringmechanismus einzuführen. Als grossen Fortschritt kann man beispielsweise den Abzug von Kräften und Material aus drei Zonen entlang der Kontaktlinie verzeichnen, oder auch die Reparatur der Fussgängerbrücke, welche einen wichtigen Übergang zwischen den regierungskontrollierten und nicht-regierungskontrollierten Gebieten der Ukraine darstellt. Diese Brücke ist insbesondere für ältere Menschen, die in den nicht-regierungskontrollierten Gebieten leben, wichtig, da sie ihre Pension in den regierungskontrollierten Gebieten erhalten. Dazu hat die Schweiz zusammen mit der internationalen Gemeinschaft und dem IKRK beigetragen.

Wir sind zudem das einzige Land, das Konvois mit humanitärer Hilfe auf beide Seiten der Kontaktlinie schicken kann. Dort kümmern wir uns vor allem um sauberes Trinkwasser und Medikamentenversorgung. Kürzlich konnten wir den 11. Konvoi seit 2015 hinschicken. Aber auch das ist sehr delikat, weil wir die selbsternannten «Behörden» jenseits der Kontaktlinie nicht anerkennen. Wir müssen betonen, dass es uns bei solchen Aktionen ausschliesslich um humanitäre Hilfe geht.

swissinfo.ch: Sie kennen den Konflikt in der Ostukraine aus Ihrer Zeit als Ständiger Vertreter der Schweiz bei der OSZE zwischen 2015 und 2019. Was hat sich seit damals geändert?

C.W.: Der vorherige Präsident Petro Poroschenko stand auf totalem Konfrontationskurs mit Russland, basierend auf dem Recht der Ukraine sich gegen Aggression zu verteidigen. Der neue Präsident, Wolodimir Selenski, wurde namentlich für seinen Willen zur Beendigung der Waffengewalt und zu einer friedlichen Lösung des Konflikts von einer grossen Mehrheit der Stimmbürger gewählt – zur grossen Überraschung von manchem westlichen Beobachter und von Poroschenko selbst. Dieser hat zwar in seiner Amtszeit viel Gutes für das Land getan, aber die Bevölkerung hat dies zu wenig gespürt. Der neue Präsident ist viel näher beim Volk. Er hat sich vorgenommen den Konflikt durch smart power zu beenden – einer Mischung zwischen soft und hard power, also zwischen diplomatischen und militärischen Massnahmen.

swissinfo.ch: Dennoch gibt es wieder Demonstrationen. Warum?

C.W.: Die grösste Angst der Bevölkerung ist, dass der Präsident zu viele Eingeständnisse gegenüber Russland macht und vor Putin auf die Knie geht. Ich denke aber nicht, dass dies geschieht. Das Minsker-Abkommen von 2015 ist zwar im Text für Russland von Vorteil. Aber nun wird es auf die Modalitäten der Anwendung ankommen.

Lange Zeit wollte die Ukraine nicht über diesen Text verhandeln, aber der neue Präsident versucht jetzt, das Abkommen in seiner Anwendung zu «ukrainisieren». Er könnte sehr wohl versuchen, neue Punkte in die Diskussion miteinzubringen.

Wenn Russland sie nicht akzeptiert, kann Selenski Europa zeigen, dass er sich kompromissbereit gezeigt hat, und dass es nun an Europa ist, mehr Druck auf Russland auszuüben. Westliche Sanktionen sind die stärkste Waffe der Ukraine gegen Russland.

Junge Menschen um ein Feuer
Während einer Kundgebung vor dem Büro des Präsidenten in Kiew im Dezember 2019. Keystone / Sergey Dolzhenko

swissinfo.ch: Wie sehen Sie die Zukunft des Konflikts?

C.W.: Dies ist der einzige Konflikt, den ich kenne, bei dem jeden Tag über 25’000 Personen die Kontaktlinie überqueren – um sich die Pension auszahlen zu lassen, Familienmitglieder zu treffen, ihre Produkte zu verkaufen. Es ist fast wie eine Berliner Mauer, nur mit Durchgängen. Das zeigt, zu welchem Grad der Konflikt künstlich ist. Die Menschen in der Ostukraine wollen keinen Konflikt, sie wollen ihr normales Leben weiterführen, es ist kein ethnischer Konflikt wie etwa damals in Bosnien. 

Vielleicht wird der Konflikt einfrieren, wie in Abchasien oder Transnistiren, wenn der Waffenstillstand einmal dauerhaft hält und man bei der politischen Lösung nicht weiterkommt. Doch man muss sich bewusst sein, dass es bei diesem Konflikt um weit mehr geht als um die Ukraine.

swissinfo.ch: Nun wurde die Schweizer Diplomatin Heidi Grau zur Sondergesandeten der OSZE-Präsidentschaft für die Ukraine und für die Trilaterale Kontaktgruppe ernannt. Was bedeutet das für Sie?

C.W.: Wir sind sehr stolz darauf, dass nach Heidi Tagliavini in 2014-2015 wiederum eine Schweizerin für diese Funktion ausgewählt wurde. Wir werden uns natürlich regelmässig mit ihr austauschen, sie wird aber im Auftrag der OSZE und nicht der Schweiz arbeiten.

Auch der Koordinator der humanitären Arbeitsgruppe der Trilateralen Kontaktgruppe ist ein Schweizer, Botschafter Toni Frisch. Dass wir somit zwei Schweizer haben, die sich für die Lösung des Konflikts engagieren, freut uns sehr und zeugt vom grossen Vertrauen, das man uns entgegenbringt.

swissinfo.ch: In welchen Bereichen ist die Schweiz in der Ukraine aktiv?

C.W.: Wir sind Partner bei der wirtschaftlichen Entwicklung, bei der Demokratisierung und Dezentralisierung, um so einerseits die lokalen Behörden zu stärken und andererseits gegen die Korruption anzukämpfen. Das Parlament ist sehr neu, viele haben noch keine politische Erfahrung, weshalb wir versuchen, sie zu unterstützen. Wir engagieren uns auch im Bereich der Energieeffizienz und im Gesundheitssystem.

swissinfo.ch: Die Schweiz ist in der Ukraine auch im Wirtschaftsbereich sehr engagiert. Weshalb?

C.W.: Die Ukraine steht vor der Herausforderung, dass sie sich von einer postsowjetischen Wirtschaftsform zu einer von Oligarchen und somit monopolitisch geprägten Wirtschaft gewandelt hat. Nun möchte sie sich in Richtung EU orientieren und eine demokratisch-liberale Wirtschaftsordnung anstreben, weg von der sowjetischen und kleptokratischen Struktur. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Schweiz in diesem Transitionsprozess engagiert.

Das Land hat enorm viel Potential, was die natürlichen Ressourcen, aber auch die Arbeitskräfte angeht. Es gibt viele gut ausgebildete Ukrainerinnen und Ukrainer. Die Schweizer Firmen, die es wagen, in dieser Umbruchsphase in der Ukraine zu investieren und die damit verbundenen Risiken einzugehen, stellen schnell fest, dass es sich um eine «win-win-win»-Situation handelt: Hier kann man Schweizer Qualität zu einem tieferen Preis produzieren und sowohl den ukrainischen als auch den zehnfach grösseren EU-Markt beliefern. Man hat somit in der Ukraine oft eine grössere Marge und schafft zudem Arbeitsplätze.  

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swissinfo.ch: Warum ist die Ukraine wirtschaftlich so interessant?

C.W.: In einem Kontext mit einem bewaffneten Konflikt sowie dem annektierten Gebiet der Krim Reformen durchzuführen, ist eine grosse Herausforderung. Dennoch bleibt die Ukraine attraktiv, etwa in der Landwirtschaft, denn sie hat die besten und fruchtbarsten Böden Europas. Man nennt die Ukraine ja auch die Kornkammer Europas. Somit gibt es hier auch einen grossen Absatzmarkt für die agrochemische Industrie.

Die Schweiz ist der fünft-grösste private ausländische Investor. Als Geberstaat auf bilateraler Ebene investieren wir mit 27 Millionen Franken pro Jahr. Das führt dazu, dass die Schweiz hier sehr angesehen ist und auch Einfluss hat.

Eine Strasse
Kiew. Eva Hirschi

swissinfo.ch: Was raten Sie Schweizerinnen und Schweizer, die die Ukraine besuchen möchten?

C.W.: Seien Sie neugierig, ein Land, eine Kultur und Leute kennenzulernen, die Sie nicht unberührt lassen werden. Die Ukraine ist ein sehr vielfältiges Land mit den Karpaten, dem Schwarzen Meer, den Nationalparks und historischen Sehenswürdigkeiten.

Gerade Kiew, aber auch Lwiw und Odessa haben eine Dynamik, die an Berlin der 1990er-Jahre erinnert – eine regelrechte Aufbruchstimmung. Es gibt eine ausgeprägte Kulturszene, die Jugendlichen sind unglaublich kreativ, das Nachtleben vibriert, aber auch der IT-Sektor ist sehr innovativ. Man sagt, die Ukraine sei das Silicon Valley Europas.

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