«Brexit führt Grossbritannien in eine Sackgasse»
Mit dem Brexit fahre sich Grossbritannien selber an die Wand, sagt der Schweizer Journalist Peter Stäuber. Seine Berichte aus einem geteilten Land wurden kürzlich in einem Buch zusammengefasst. Er zeigt ein «Albion», das dramatisch gespalten ist zwischen einer Elite und ihren Sitzengelassenen.
«Der Brexit und die unentwirrbare politische Situation in Grossbritannien sind komplizierte Themen, die man nicht allein auf die Entstehung des rechtsextremen Populismus in den letzten Jahren zurückführen sollte. Eine stagnierende Volkswirtschaft, anhaltende Ungleichheiten und immer wiederkehrende soziale Probleme gehören hier seit langem zum Bild», entmystifiziert Peter Stäuber die Situation auf Anhieb.
Als sich das britische Stimmvolk am 23. Juni 2016 für den Brexit ausgesprochen hatte, war der Grossbritannien-Korrespondent der Zürcher Wochenzeitung WOZExterner Link und des deutschen Nachrichtenportals «Zeit Online»Externer Link nicht überrascht. «Ich wachte nicht auf und dachte, dass sich dieses Land dramatisch verändert hätte, dass es nicht mehr das gleiche Land sei, das ich gekannt hatte. Euroskeptizismus war hier schon immer präsent, und der Brexit ist heute nur noch eine Art krönender Abschluss», so Stäuber.
Um das zu verstehen, bummelte der Journalist durch das Hinterland. «Ich musste London verlassen, seinen Zentrismus, seine Presse, die sich nur auf den Klatsch der Hauptstadt konzentrierte. So reiste ich den ganzen Weg nach Norden, in den Osten und bis nach Wales, besonders in Gebiete, die den Brexit mit hoher Akzeptanzrate angenommen hatten.»
Nach dem Beispiel der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, war «das Gefühl, von den Londoner Eliten verlassen worden zu sein, in einigen Regionen sehr ausgeprägt, ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die hier nach Jahrzehnten der Deindustrialisierung der 1980er-Jahre noch sichtbar sind». Eine Situation, die mit jener in den Bergbaugebieten Nordfrankreichs vergleichbar ist.
Labour-Partei keine Option mehr
Stäuber ging nach Derby, in die Midlands. Im Zentrum der Metallindustrie hörte er, wie pensionierte Arbeiter die Linke offen kritisierten. In diesem Teil des Landes wirft man der Labour-Partei vor, die Arbeiterschaft seit 1994, dem Jahr, in dem Tony Blair Parteichef wurde, nicht mehr im Visier zu haben.
Angesichts dessen, was aus dem «dritten Weg» geworden ist, dem Übergang zu einer liberaleren Linken als dem vom ehemaligen Premierminister befürworteten Weg, sind die Senioren von Derby nicht bereit, sich ein zweites Mal die Finger zu verbrennen. Sie wählen deshalb nicht Jeremy Corbyn, den derzeitigen Führer der Arbeiterbewegung.
Jim Walsh, ein 74-jähriger Rentner aus Derby, antwortete dem Schweizer Journalisten ohne zu zögern: «Es steht ausser Frage, Corbyn zu wählen, das ist ein Kommunist.» Die Grafschaft Derby stimmte zu 57% für den Brexit.
Die gleiche Verbitterung beobachtete Stäuber in Great Yarmouth in der Grafschaft Norfolk im Osten des Landes. «Wir hätten die Europäische Union schon vor sehr langer Zeit verlassen sollen», sagte ihm ein Taxichauffeur gleich bei seiner Ankunft.
Dessen Tochter, die als Coiffeuse arbeitet, konnte in neun Jahren gerade einmal 25’000 Pfund (etwas über 30’000 Franken zum aktuellen Kurs) ansparen, um endlich eine eigene Wohnung erwerben zu können. «Asylsuchende werden hier sofort untergebracht. So funktioniert dieses Land», sagte der wütende Taxifahrer.
«Sie wussten, was sie tun»
Der Boom in der City of London, dem wirtschaftlichen Zentrum des Landes, hat dazu geführt, dass die aufeinanderfolgenden Regierungen in den letzten Jahren ganze Teile der englischen Gesellschaft bei den Investitionen vernachlässigt haben.
«Ich glaube nicht, dass die Briten 2016 während der Brexit-Kampagne manipuliert wurden. Sie gaben ihre Stimmen in voller Kenntnis der Sachlage ab und nutzten gleichzeitig die Gelegenheit, beim Referendum ihre zahlreichen Beschwerden zum Ausdruck zu bringen», so Stäuber.
In seinem Buch «Sackgasse Brexit. Reportagen aus einem gespaltenen Land» (Rotpunktverlag, 2018) stellt der Journalist auch mit einiger Besorgnis fest, dass es im Vereinigten Königreich einen zunehmend grassierenden und enthemmten Rassismus gibt, der sich gegen ethnische Minderheiten richtet, vor allem gegen dunkelhäutige Menschen. Laut einem Bericht des Labour-Abgeordneten David Lammy sind sie sechsmal häufiger einem Rassenprofiling ausgesetzt als Hellhäutige.
Der Schmelztiegel, der von den Behörden während der Olympischen Spiele in London (2012), als die Stadt auf ihrem Wachstumskurs war, so gelobt wurde, ist nicht mehr. «Das Ja zum Brexit klang für einige wie die Wiederaneignung ihres Heimatlands und die Möglichkeit, unerwünschte ethnische Minderheiten, aber auch Expats aus EU-Ländern auszuschliessen», analysierte eine Studie des Institute of Race Relations (IRR) in London einige Monate nach der Abstimmung vom Juni 2016.
Der Schatten des Grenfell-Towers
«Der Preis für den Brexit ist zu hoch», schliesst Stäuber in seinem Buch. «Kein Land kann florieren, wenn die Kluft zwischen der Elite und dem Rest der Bevölkerung so gross ist.»
Der Journalist stellt auch fest, dass die Kürzungen im Gesundheitswesen für die Patienten zu längeren Wartezeiten in den Spitälern geführt haben. Oder dass die Einstellung von billigen Arbeitskräften (vor allem aus Polen) während der letzten zehn Jahre zu Lohndumping führte.
Nicht vergessen darf man die Katastrophe im Grenfell-Tower, wo 2017 mehr als siebzig Menschen bei dem Brand dieses 24-stöckigen Wolkenkratzers im Westen Londons starben. Ungenügende Investitionen in die Renovation und das Sicherheitssystem führten dazu, dass das Gebäude innert Minuten durch das Feuer verzehrt wurde. So legt sich ein unangenehmer Geruch nach Verbranntem auf die letzten Seiten von «Sackgasse Brexit».
Mehr
Wie Schweizer in London versuchen, den Brexit zu überleben
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch