Italien mit Nachholbedarf bei den Zubringern
Der neue Gotthard-Basistunnel braucht auf beiden Seiten gut ausgebaute Zubringerstrecken, damit er den Effekt einer Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene bewirken kann. Italien auf der Südseite ist in Verzug, holt aber auf. Einige Arbeiten an den Zulaufstrecken haben bereits begonnen oder werden demnächst umgesetzt. Doch wird dies ausreichen, den Verkehrszuwachs zu bewältigen?
Der italienische Premierminister Matteo Renzi erklärte vor wenigen Tagen etwas unglücklich, dass «Italien den Gotthard-Tunnel baut». Hätte er vor 140 Jahren gelebt, wäre Renzi nicht falsch gelegen. Der erste, 1882 eröffnete Bahntunnel durch das Gotthard-Massiv wurde in der Tat auch dank italienischen Kapitals finanziert.
Der neue Gotthard-Basistunnel, der Anfang Juni 2016 eingeweiht wird und rund 12 Milliarden Franken kostet, ist hingegen ein Bauwerk, das die Schweiz ganz alleine finanziert hat. Italien hat keinen Rappen beigesteuert.
Der Ausrutscher von Renzi hat hämische Kommentare und in den sozialen Medien einen regelrechten Shitstorm ausgelöst. Für Dario Balotta, den Verantwortlichen für Verkehrspolitik bei der italienischen Umweltvereinigung Legambiente Lombardia, ist Renzis Aussage durchaus bezeichnend für die geringe Aufmerksamkeit, die einem Projekt wie Alptransit zu Teil wird, obwohl Italien ganz direkt davon profitiert. «Für die Verkehrswege gelten keine administrativen Grenzen, einzig der Markt ist wichtig. Aber Italien hat ein Bauwerk wie Alptransit nicht ausreichend begleitet.»
Einseitiger Fokus auf Hochgeschwindigkeit
Gemäss Balotta hat Italien seine Verkehrspolitik zu sehr auf die Hochgeschwindigkeit (HG) im Personenverkehr bei der Bahn sowie «unnütze» Strassenbauten ausgerichtet, beispielsweise die neue Autobahn Mailand-Brescia (Brebemi), welche Steuergelder in Höhe von 2,4 Mrd. Euro verschlungen hat. Hingegen wurde der Rest des Bahnnetzes vernachlässigt.
Balotta: «Hochgeschwindigkeit ist wichtig, aber die HG-Züge werden von weniger als 100’000 Passagieren pro Tag benutzt. Hingegen gibt es drei Millionen Passagiere, die mit einem völlig unzulänglichen Bahnsystem zu Recht kommen müssen. Und von der Verlagerung des Güterverkehr auf der Schiene brauchen wir gar nicht zu reden: Die wurde vollkommen vergessen.»
Diese Entwicklung hat die Schweizer Behörden alarmiert. Und damit Alptransit nicht in Italien in einer Sackgasse endet, hat das Schweizer Parlament einen Kredit in Höhe von 280 Mio. Franken gesprochen, um die Zulaufstrecken zur Neuen Alpentransversalen (Neat) in Italien zu verbessern.
Allein 140 Mio. Franken werden für die Realisierung eines Vier-Meter-Korridors auf der Luino-Linie aufgebracht, die von Bellinzona nach Busto Arsizio/Novara führt, wo sich die grössten Verladeterminals in Norditalien befinden. Dank dieser Ausbauarbeiten können dereinst 750 Meter lange Güterzüge verkehren, die Lastwagen mit einer Eckhöhe von vier Metern transportieren.
Ausländisches Kapital für die Gotthardbahn
Der Bau der Gotthardbahn im 19. Jahrhundert wurde durch das Königreich Italien und das Deutsche Reich mitfinanziert. Neben dem 1882 eröffneten und 15 Kilometer langen Scheiteltunnel gehörten auch die Zufahrtsstrecken hinzu.
Rom brachte 58 Millionen Franken an Subventionen auf, Berlin 30 Millionen Franken. Die Schweiz sprach ihrerseits 31 Millionen. Als Gegenleistung verpflichtete sich die Schweiz, den Betrieb der internationalen Linie zu garantieren, das bedeutete einen zuverlässigen und raschen Transport von Passagieren, Gütern und Postsendungen.
Als Folge der Gründung der staatlichen SBB musste die Schweiz im Rahmen des Gotthardvertrags von 1909 Italien und Deutschland tariflich entgegenkommen und eine Garantie zum Betrieb der internationalen Linie abgeben. Italien und Deutschland verzichteten ihrerseits auf die Rückerstattung ihrer Subventionen.
Die Schweiz tätigt diese Investitionen nicht uneigennützig. Denn so kann die Eidgenossenschaft vermeiden, grosse Terminals im eigenen Land errichten zu müssen. Interesse an einem Zuwachs des Schienengüterverkehrs besteht aber auch auf italienischer Seite, um die chronisch verstopften Strassen zu entlasten. «In den Terminals von Busto und Novara sind noch Kapazitäten vorhanden. Hingegen gibt es östlich von Mailand Engpässe. Erst jetzt denkt man daran, den dortigen Terminal auszubauen. Gleichwohl ist es positiv, denn es geht etwas», hält Balotta fest.
Zugleich relativiert der Umweltaktivist seine Zufriedenheit: «Ein grosses Problem bleibt aber: Die Güterzüge verkehren nur bis in die lombardischen Terminals und nicht weiter. Auf den Hochgeschwindigkeits-Trassen können sie nicht fahren und die anderen Schienenwege sind bereits überlastet.»
Italien «nicht eigentlich im Verzug»
Verkehrsexperte Lanfranco Senn, Professor an der Universität Bocconi von Mailand und Autor einer Studie über die wirtschaftlichen Folgen von Alptransit für Norditalien, ist der Auffassung, dass Italien in Sachen Alptransit nicht wirklich im Rückstand ist. In jüngster Zeit hätte der Schwerpunkt vor allem auf der Strecke Turin-Lyon sowie zum Teil auf der Brenner-Linie gelegen. Der Zulauf zur Neuen Alpentransversalen habe daher nicht oberste Priorität gehabt.
Senn betont aber, dass seit einem Jahr Fortschritte festzustellen seien. So habe der neue Verwaltungsratsdelegierte der italienischen Staatsbahnen, Renato Mazzoncini, die Ankurbelung des Schienengüterverkehrs zu einer seiner strategischen Ziele erklärt. Dies stelle einen Paradigmenwechsel gegenüber seinen Vorgängern dar, die stets auf den Personenverkehr gesetzt hätten.
«Die Arbeiten an einigen Strecken haben begonnen, genauso wie der Ausbau des Lichtraumprofils von Tunnels und die logistische Aufrüstung. Italien ist beim Alptransit mit von der Partie», beschwichtigt Senn.
Auf der Strecke Bellinzona-Novara würden die Arbeiten im Juni beginnen, wie Gianpiero Strisciuglio von der Netzbetreiberin Rete Ferrovaria Italiana (RFI) kürzlich gegenüber swissinfo.ch erklärte. Über diese Strecke wird der Grossteil des Güterverkehrs via Gotthard von und nach Italien abgefertigt.
Für den Ausbau der Strecke Chiasso-Mailand bleibt laut Senn noch Zeit, «denn die Neat an der Gotthard-Linie wird erst mit der Inbetriebnahme des Ceneri-Basistunnels 2020 vollendet sein».
100 zusätzliche Züge pro Tag
Wenn dieser Vollausbau einmal abgeschlossen sein wird, sollte es 2020 möglich sein, 390 Güterzüge pro Tag zirkulieren zu lassen. Im Moment sind es 290. Die Kapazität auf der Strecke Mailand-Chiasso steigt um 60 Züge, auf der Achse Luino/Gallarate um 40.
Dario Balotta bleibt aber skeptisch. Denn die Erhöhung der Kapazität auf der Linie Chiasso-Mailand soll hauptsächlich über technologische und logistische Anpassungen erfolgen, die eine höhere Zugdichte ermöglichen. Die Strecke bleibt aber zweigleisig. Die einst angestrebte Verdoppelung auf vier Spuren ist nicht in Sicht.
Gemäss dem «Osservatorio Territoriale Infrastrutture Nord Ovest» wird der Ausbau der Gleiskapazität erst 2023 beginnen und bestenfalls 2030 beendet sein.
Doch mit nur zwei Gleisen bleibt die Verkehrsführung laut Balotta auf jedem Fall eingeschränkt: «Man kann die Sicherheitsabstände verringern und so die Kapazität erhöhen, doch ein Güterzug von 2000 Tonnen Gewicht wird nie beschleunigen und bremsen wie ein Regionalzug. Das bedeutet, dass der Güterverkehr auf dieser Linie praktisch nur nachts abgewickelt werden kann.»
Das Bundesamt für Verkehr (BAV) ist indes überzeugt, «dass mit den ergriffenen Massnahmen sowohl im Norden als auch im Süden genügend Kapazitäten im Hinblick auf die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels am 1. Juni 2016 und der Gesamt-Neat per 2020 bereit stehen», wie es im BAV-Newsletter vom Februar 2016 steht.
Für den Vollausbau der Zulaufstrecken gelten keine fixen Jahreszahlen. «Gemäss den Verträgen mit den beiden Ländern müssen die Zulaufstrecken «Schritt haltend mit der Verkehrsnachfrage» ausgebaut werden», so das BAV.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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