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Mein Kampf gegen den Brexit – und was ich daraus lernte

Zwei Brexit-Befürworterinnen mit Plakaten auf einer Strasse in London
"Raus heisst raus": Diese zwei Brexit-Befürworterinnen stehen in den Strassen Londons für eine Umsetzung des Volksentscheids vom Sommer 2016 ein. Copyright 2018 The Associated Press. All rights reserved

Die Auslandschweizerin Michelle Hufschmid war 2016 in der "Remain"-Kampagne engagiert. Sie blickt zurück auf die Entstehung eines Volksentscheids, der noch lange nachwirken wird. Der Entscheid im britischen Parlament über den Brexit-Deal wird derweil immer mehr zum "Brexit-Chaos": Premierministerin Theresa May hat die Abstimmung von heute Dienstagabend abgesagt. Wie es weitergeht, ist noch unklar.

In der Universitätsstadt war die Stimmung vor der Abstimmung über das EU-Plebiszit nicht allzu besorgt. Oft standen sich Studierende mit Plakaten für und gegen den Verbleib Grossbritanniens in der EU direkt gegenüber und buhlten um die Zustimmung der vorbeieilenden Bürgerinnen und Bürger.

Manchmal bildete sich ganze Trauben von Menschen, die den hitzigen, aber kameradschaftlichen Streitgesprächen zwischen Aktivistnnen und Aktivisten der gegnerischen Lager lauschten.

Angst vor Zuwanderung

Beim Gespräch mit Menschen auf der Strasse war die Migration das mit Abstand am meisten genannte Thema. Polnische Klempner und andere osteuropäische Handwerker waren inzwischen sprichwörtlich geworden.

Autorin Michelle Hufschmid.
Autorin Michelle Hufschmid. University of Oxford

Viele Passanten waren sehr besorgt, ja nicht etwas zu sagen, das als rassistisch ausgelegt werden könnte. Was aber in persönlichen Gesprächen manchmal erst mit etwas Nachbohren herauskam: Viele ärgerten sich über Probleme durch Migration aus nichteuropäischen Staaten wie Indien, Pakistan und Bangladesch. 

Aber sie verlagerten diese Kritik auf (Ost)-Europäerinnen und -Europäer. Das erschien ihnen als sicherer, denn Kritik von weissen an nicht-weissen Menschen kann in Grossbritannien schnell als rassistisch gelten.

Tiefe Löhne – hohe Mieten

Das zweite Thema, das immer wieder angeschnitten wurde, waren die tiefen Löhne. Nach zehn Jahren Austeritätspolitik wegen der Finanzkrise sind sie im Grossbritannien so tief, dass sie bei grossen Teilen der Bevölkerung Stress hervorrufen.

Oxford ist noch vor London die Stadt mit dem ungünstigen Verhältnis von tiefen Löhnen und hohen Lebenskosten. Viele Studentenjobs werden mit einem Stundenlohn von acht bis zwölf Pfund (10 bis 15 Schweizer Franken) vergütet. Die vielen Putzjobs in Colleges oder Dienstleistungsjobs in Cafés oder Läden sind oft nur geringfügig höher bezahlt.

«Es ist mühsamer, in Oxford eine Wohnung zu finden als in Zürich, und die Lebensqualität in den zugigen und zerbröckelnden Unterkünften ist deutlich tiefer.»

Die Mietpreise dafür sind vergleichbar mit jenen in Zürich. Es ist mühsamer, in Oxford eine Wohnung zu finden als in Zürich, und die Lebensqualität in den zugigen und zerbröckelnden Unterkünften ist deutlich tiefer.

Die Zahl der Obdachlosen im Stadtzentrum Oxfords hat sich in den letzten vier Jahren mehr als verdoppelt. Das führt dazu, dass neben den üppigen Gebäuden der reichen Universitätscolleges oft verwahrloste und drogenabhängige Obdachlose auf der Strasse leben.

Viele Wählerinnen und Wähler liessen durchblicken, dass es so nicht weitergeht. Sie sahen das Referendum als eine Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit mit der Lage im Land auszudrücken. Ein diffuses Gefühl des Kontrollverlusts war unter vielen Wählerinnen und Wählern verbreitet. Das machte die «Selbstbestimmung» zu einem der Schlagwörter im Vorlauf der Abstimmung.

Aktivisten werben auf Schiffen auf der Londoner Themse für den Brexit
Kleine Armada, die im Sommer 2016 auf der Londoner Themse für den Brexit «in See» stach. EPA
Schuss vor den Bug ging nach hinten los

Erschreckend wenige Menschen konnten in Gesprächen jedoch genau benennen, was sie an den Beziehungen zur EU konkret störte.

Sehr viele Passanten sagten, dass sie nicht damit rechneten, dass Grossbritannien jemals aus der EU austreten werde. Dies sogar, wenn das Referendum angenommen würde. Die grosse Mehrheit aber ging von einer Ablehnung aus.

Aber an der Urne kam es bekanntlich anders heraus. In Oxford stimmten «nur» 72% für den Verbleib – für eine progressive Universitätsstadt hätte die Zustimmung zu Europa aber über 80% sein müssen.

Frau in der Londoner Metro mit einer Zeitung pro Verbleib in der EU
Die Remain-Kampagne unterlag: Frau in der Londoner Underground mit einer Zeitung, die für den Verbleib in der EU warb. EPA

Keine Europäer

Wie lässt sich das erklären? Einerseits war da ein Identitätsproblem. Viele Britinnen und Briten sehen sich selber nicht als Europäerinnen und Europäer. Sie sprechen oft von Europa, ohne sich selber dazuzuzählen.

«Viele britische Politikerinnen und Politiker haben eigene Fehler und schwierige Entscheidungen zu lange unehrlich auf die EU abgeschoben.» 

Als Erbe ihres Kolonialreichs und der Verbindung mit anderen englischsprachigen Ländern wie den USA, Kanada und Australien fühlen sich auf der Insel viele Menschen eng mit anderen Nationen ausserhalb der EU verbunden. Das macht den Verbleib in der EU zur Abwägung von Vor- und Nachteilen und nicht zur Identitätsfrage.

Dazu haben viele Politikerinnen und Politiker eigene Fehler und schwierige Entscheidungen zu lange unehrlich auf die EU abgeschoben. Das deutlichste Beispiel dafür waren die Entscheidung beider Grossparteien, auf eine erhöhte Einwanderung von billigen Arbeitskräften aus Osteuropa zu setzen.

Brexit-Chaos statt Brexit-Deal

Am Montagnachmittag hat Premierministerin Theresa May die für heute Abend geplante Abstimmung im britischen Unterhaus über ihren mit Brüssel vereinbarten Brexit-Deal abgesagt. Wie es nun weitergeht, war am Dienstagmorgen noch nicht klar. Folgende Szenarien sind denkbar:

Neuer Abstimmungstermin nach Debatte im Unterhaus.

«Trotz-Nein» als Denkzettel für Theresa May. Falls def. Entscheid: 

Rücktritt Theresa May möglich, danach Neuwahlen.

«Die Kröte wird geschluckt»: Ja zum Deal in einer zweiten Abstimmung.

«Brexit-Abstimmung Nr. 2»: Falls es bei einem Nein des Parlaments bleiben würde, dürfte der Ruf nach einer zweiten Abstimmung über den Brexit lauter werden.

«Harter Brexit»: Reissen alle Stricke, ist aber auch ein Austritt Grossbritanniens aus der EU ohne Abkommen möglich. Die Folgen eines solchen ungeordneten Austritts aber wären kaum im ganzen Ausmass abzuschätzen.

«Exit vom Brexit»: Laut Urteil vom Gerichtshof der Europäischen Union (EUGH) vom Montag könnte Grossbritannien vom Brexit zurücktreten. In dem Fall verbliebe das Land in der EU.

Grenzöffnungen 2004/2014

Die Labour Regierung unter Gordon Brown entschied 2004, Zuwanderung aus Polen und anderen osteuropäischen Staaten zuzulassen, während Deutschland und Frankreich diese Zuwanderung beschränkten.

Die konservative Regierung unter David Cameron hob 2014 die Restriktion des Arbeitsrechts für Rumänen und Bulgaren auf, was 2016 zu einem Anstieg von Zugewanderten aus Rumänien und Bulgarien von 80% führte. Dies war eine freie und unabhängige Entscheidung der britischen Regierung. Aber Premier Cameron verkaufte es den Briten als Zwang der EU.

Motiv: Machterhaltung

Der Logik interner Parteipolitik war es geschuldet, dass es überhaupt zur Abstimmung über den Verbleib in der EU kam. Cameron wollte die konservative Partei einigen, indem er den Spaltpilz EU hinter sich lassen wollte. Sein Selbstvertrauen – und mangelndes Demokratieverständnis – zeigte sich in der nachlässigen Organisation der Remain Campaign.

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Die Abstimmungsmaterialen thematisierten lokale Partikularinteressen und das staatliche Gesundheitswesen. An die heute in den Medien dominierenden Themen wie die Grenze zwischen Irland und Nordirland und den Zugang zum europäischen Binnenmarkt dachten noch wenige Politiker. Wie abstrakt waren diese Punkte dann erst für die meisten Wählenden?

Miserable Entscheidungsgrundlagen

Insgesamt waren die Britinnen und Briten sehr schlecht über die konkreten Konsequenzen eines EU-Austritts informiert. Dafür gibt es vier Hauptgründe.

Erstens: Grossbritannien hat keine Abstimmungs-Tradition. Die Wählenden waren durch die fehlende Übung anfälliger auf kurzfristige politische Propaganda. Wie etwa jenen Slogan der Brexit-Befürworter, dass London 350 Millionen Pfund nach Brüssel abführen müsse – pro Woche! Diese Summe prangte riesengross auf dem roten Bus der «VoteLeave»-Kampagne.

David Davies, der nach der Abstimmung erster Brexit-Minister wurde, tweetete am 4. Februar 2016 – rund vier Monate vor dem Plebiszit – dass Bosse von Unternehmen aus der übrigen EU wenige Minuten nach einen Ja zum Brexit an die Türe von Angela Merkels Büro klopfen und Zugang zum britischen Markt verlangen würden. Von den Kosten für die britische Wirtschaft sprach vor der Abstimmung kaum jemand.

Ein führender Kopf der Brexit-Kampagne: der damalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson
Wechselte ins Lager der Gegner des britischen Polit-Establishments: Boris Johnson, damalige Bürgermeister Londoner, erhob sich zu einem führenden Kopf der Brexit-Kampagne. EPA

Zweitens: viele Wählende dachten, dass sie mit einem taktischen Ja ein Zeichen setzen könnten, aber keinerlei Konsequenzen tragen müssten. Viele Wählende waren an ein taktisches Abstimmen gewöhnt. Das effektive Zweiparteiensystem lässt für Parlamentsvertreter oft nur die Wahl zwischen Labour und Konservativen zu. Ist das nicht der Fall, wählen viele Kandidatinnen und Kandidaten von einer kleineren Drittpartei. Viele wollten ein knappes Resultat für Remain erzielen, um der «politischen Klasse» einen Denkzettel zu verpassen und ihre Frustration auszudrücken. In der Erwartung, dass alles beim Alten bleiben würde.

Drittens: stärker als in der Schweiz spaltete sich das Abstimmungsverhalten entlang sozialer Linien auf. Die soziale Klasse nimmt in Grossbritannien einen wichtigeren Stellenwert ein als in der Schweiz ein. Sie ist nur begrenzt vom Einkommen abhängig, sondern wird oft von sozialen Merkmalen bestimmt: Dem Dialekt, dem Prestige der absolvierten Schule und Universität, den Hobbies, Interessen, der Kleidung und Einkaufsorte. Zusammen ergibt das einen oft klar codierten Lifestyle.

An der Universität Oxford stimmte ein Grossteil der Studierenden für Remain, also gegen den Brexit. Eine kleine, aber laute konservative Minderheit führte Argumente für eine neue nationale Souveränität an. Diese staatstheoretischen Argumente waren aber meilenweit entfernt von den Sorgen jener Menschen aus den Tieflohnsektoren, die im rauen Stadtteil Oxfords in Unsicherheit leben.

Viertens: Viele Migrationsprobleme haben sich aufgestaut, weil sie in Grossbritannien wegen des politischen Klimas schwierig anzusprechen sind. Es ist zu einfach, hier die überstrapazierte «political correctness» zu zitieren. Das Problem war da, bevor diese Idee aus den USA importiert wurde.

Stattdessen entstammt die Schwierigkeit der englischen Höflichkeitskultur. So streitlustig die Mitglieder des britischen Parlaments sind, so wenig neigen Britinnen und Briten im Alltag dazu, Probleme offen anzusprechen. Schwierige Gespräche werden so oft mit dem Hinweis auf Höflichkeit vermieden.

Das führte dazu, dass sich keine erwachsene und verantwortungsbewusste Diskussionskultur zum Thema Migration entwickelt hat. Dies aber wäre gerade im Hinblick auf Grossbritanniens koloniales Erbe besonders wichtig gewesen.

Stattdessen fällt vielen jegliche kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Einstellungen zu Migrantinnen und Migranten schwer, gerade wenn diese nicht von weisser Hautfarbe sind. Die Faust im Sack schlug schliesslich bei der Abstimmung über den Brexit zu. Dabei ging es offiziell nicht um eine Migrationsfrage. 

Theresa May freut sich vor ihrem Wohnsitz an Downing Street 10 über einen Weihnachtsbaum
St.-Nikolaus-Rute oder Weihnachtsgeschenk? Theresa May kann sich vor ihrem Wohnsitz an Downing Street 10 immerhin über einen Weihnachtsbaum freuen. Copyright 2018 The Associated Press. All rights reserved.

Mays «Mission impossible»

Premierministerin Theresa May stand vor einer schier unlösbaren Aufgabe: Sie musste das Parlament überzeugen, den von ihr erzielten Austrittsdeal zu unterstützen. Sonst drohe Grossbritannien ohne Deal dazustehen und auf die Handelsstandards der Welthandels-Organisation (WTO) zurückzufallen. Oder es komme zu gar keinem Brexit.

Das aber würde aber das Brexit-Verdikt der Briten zu offensichtlich ignorieren. Somit ist es genauso eine leere Drohung wie das Mantra «Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal», von dem die Premierministerin nach zwei Jahren in den letzten Wochen öffentlich abgerückt war.

Schweiz kein Kompass

Könnte sich Grossbritannien in dieser Situation ein Vorbild an der Schweiz nehmen? Die Antwort darauf ist ein klares Nein. Die Vorbilder für die britischen Beziehungen mit der EU sind Kanada und Norwegen. Dafür gibt es einerseits eine technisch-politische Erklärung.

Der freie Personenverkehr ist zwar auch eines der Hauptthemen des Brexits. Aber nach dem Ja des Schweizer Volks 2014 zur Masseneinwanderungs-Initiative gibt es zu viele Unsicherheiten zwischen der Schweiz und der EU, als dass die Schweiz als Vorbild betreffend Kontrolle der Migration dienen könnte.

Andererseits ist die Schweiz auch kein attraktives kulturelles Vorbild. Sie hat vielerorts den Ruf einer etwas langweiligen Profiteurin. Die Erinnerung an das Nazigold, dem während des Zweiten Weltkriegs angehäuften Fundaments für den späteren Aufstieg des neutralen Kleinstaats, ist auch bei der jungen Generation noch nicht verblichen. 

«Die Masseneinwanderungs-Initiative wurde in Grossbritannien als rassistisch angesehen und man möchte einen politischen Beigeschmack vermeiden.»

Die Masseneinwanderungs-Initiative wurde in Grossbritannien als rassistisch angesehen und man möchte einen politischen Beigeschmack vermeiden. Zusätzlich ist die Schweiz – wie auch Norwegen – schlicht weniger auf dem kulturellen Radar Grossbritanniens als das englischsprachige Kanada.

Den Preis wird Bevölkerung zahlen müssen

Egal, welchen Deal Grossbritannien schliesslich mit der EU schliesst: Der Austritt wird wahrscheinlich eine Deregulation der Bestimmungen zum Arbeitnehmerschutz zur Folge haben. Die Konsequenz ist eine sinkende Lebensqualität für die Durchschnittsbürgerinnen und -bürger.

Was auf den ersten Blick wie mehr Mitspracherecht für die Bevölkerung aussah, entpuppte sich als Manipulation, für welche die einfachen Menschen auf Jahrzehnte hinaus die Zeche werden bezahlen müssen.

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