«Die Frauen sind viel selbstbewusster geworden»
In der jungen Republik Nepal nehmen Frauen zunehmend Einfluss auf die Politik. Elisabeth von Capeller, die erste Schweizer Botschafterin in Nepal, beobachtet hoffnungsvoll die Entwicklungen im südasiatischen Staat. Zugleich zieht sie im Interview nüchtern Bilanz: "Die Akzeptanz gegenüber den Frauen ist noch nicht überall vorhanden."
In Nepal, einem der am wenigsten entwickelten Länder der Welt, wird intensiv über die Integration von Frauen diskutiert. In der jungen Republik hat sich seit Ende des zehnjährigen Bürgerkriegs im Jahr 2006 ein enormer Wandel vollzogen.
Mit der neuen Bundesverfassung von 2015 haben Frauen politisch an Einfluss gewonnen. Bei den Wahlen 2017 war der Frauenanteil im Parlament höher als er in zahlreichen anderen Ländern weltweit ist. Auf lokaler Ebene sind 41% der Politiker Frauen, von denen 20% so genannte Dalits sind, also aus der niedrigsten Kaste der nepalesischen Gesellschaft stammen.
«Nepal ist heute ein anderes Land», sagt die Schweizer Botschafterin in Nepal, Elisabeth von Capeller, im Interview mit swissinfo.ch.
Botschafterin Elisabeth von Capeller
Die 1961 in Basel geborene Elisabeth von Capeller erwarb an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) einen Master in Agrartechnik. 2007 trat sie der Deza bei und arbeitete in Nepal.
Ab 2009 war sie Leiterin der Abteilung Zusammenarbeit sowie stellvertretende Missionsleiterin. 2011 wurde sie zur Leiterin der Abteilung Südasien ernannt und war bis 2014 Leiterin der Abteilung Konflikt und Menschenrechte. Seit 2018 ist von Capeller Botschafterin der Schweiz in Nepal.
swissinfo.ch: Sie haben von 2007 bis 2011 für die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) in Nepal gearbeitet, seit 2018 sind Sie als Schweizer Botschafterin dort. Können Sie uns etwas über Ihre Erfahrungen in Nepal erzählen?
Elisabeth von Capeller: Ich denke, Nepal ist heute ein anderes Land als 2007 und 2011, als ich es verliess. Nepal hat sich von einem sehr ländlichen Staat zu einer mobileren Gesellschaft gewandelt. Es gibt viele Austauschmöglichkeiten zwischen ländlichen und städtischen Gebieten sowie zwischen Nepal und dem Ausland. Am wichtigsten ist, dass der Zugang zu abgelegenen Gebieten dieses Land wirklich verändert hat. Wir sehen heutzutage mehr Infrastruktur.
Im Juni war ich in Jajarkot in Westnepal, einer extrem armen Gegend. Vor zehn Jahren gab es dort keinen Zugang zu den Märkten, aber heute gibt es Wege und Strassen, und die Menschen tauschen Waren, Dienstleistungen und Ideen aus.
Zweitens sehe ich seit dem Friedensabkommen und den Wahlen grosse Unterschiede im politischen System, und das auf drei verschiedenen Ebenen. Wenn Sie in die Bezirke gehen, sind die Bürgermeister und Vorsitzenden sehr bemüht, den Menschen bei deren Problem zu helfen. Die Politiker haben eine völlig andere Rechenschaftspflicht als zuvor.
Drittens haben junge Menschen heute eine andere Einstellung. Einst studierten sie, um Ingenieure und Regierungsangestellte zu werden, heutzutage möchten viele Unternehmer werden.
swissinfo.ch: Sehen Sie Möglichkeiten für Frauen, sich noch mehr im neuen föderalen System zu engagieren und an der Politik zu beteiligen?
E.C.: In Nepal muss entweder der Bürgermeister oder dessen Stellvertreter eine Frau sein. Dies ist die mutigste und beste Entscheidung, die Nepal der Welt präsentieren kann. Die meisten Frauen, die ich getroffen habe, machen einen fantastischen Job. Ich sehe, dass sie ein grosses Potenzial haben, ihre Gesellschaft zu stärken.
Meiner Meinung nach sollten grundsätzlich die Parteien diese Entwicklung fördern, aber die Deza hilft mit und unterstützt die Frauen mit einem Programm namens «She Leads». Dieses soll Frauen mit Fähigkeiten und Kenntnissen befähigen, an politischen Prozessen und Wahlen teilzunehmen und Führungsrollen zu übernehmen.
swissinfo.ch: Wie beurteilen Sie die Fortschritte und das Gleichgewicht in Bezug auf die Rechte der Frauen seit der Verfassungsänderung im Jahr 2015?
E.C.: Ich denke, die Akzeptanz gegenüber den Frauen ist noch nicht überall vorhanden. Sie erhalten immer noch andere Aufgaben als Männer. Es werden wahrscheinlich noch mehr Wahlen nötig sein, damit ihre Position gefestigt wird.
Aus meiner Sicht haben sich junge Frauen seit 2015 stark verändert, sie sind viel selbstbewusster geworden. Dennoch gibt es in der nepalesischen Gesellschaft noch immer viele einschränkende Faktoren. Vor allem im Westen des Landes werden Frauen noch stark diskriminiert. Das betrifft vor allem die Dalit-Gemeinden.
swissinfo.ch: Welche Ursachen hindern Frauen an der Gleichberechtigung? Wie sehen Sie den Vergleich mit der Schweiz?
E.C.: Ich denke, es hängt davon ab, wie eine Gesellschaft aufgebaut ist und welche Aufgaben sie ihren Frauen zuweist. Viele Frauen in Nepal werden noch immer stark benachteiligt. Aber dasselbe Problem existiert auch in der Schweiz.
«Viele Frauen in Nepal werden noch immer stark benachteiligt. Aber dasselbe Problem existiert auch in der Schweiz.»
Am 14. Juni fand in der Schweiz eine grosse Demonstration statt, an der eine halbe Million Frauen teilnahmen. Sie verlangten gleichen Lohn und gleiche Chancen auf Führungspositionen. Auch die Schweiz muss also noch viel tun, um komplette Gleichberechtigung zu erreichen.
Ich erinnere mich, dass ich einmal sogar gefragt wurde, warum Frauen nicht bei ihren Kindern zu Hause bleiben. Ausserdem war ich elf Jahre alt, als Frauen in der Schweiz das Wahlrecht erhielten. Meine Mutter war damals ungefähr vierzig Jahre alt. Ich kann das immer noch nicht glauben.
swissinfo.ch: Welche Schwierigkeiten hatten Sie bei der Institutionalisierung des Föderalismus in Nepal?
E.C.: Ich weiss nicht, ob ein anderes Land eine solche Massnahme durchführen könnte. Können Sie sich vorstellen, das gesamte System eines zentralisierten Staates von einem Tag auf den nächsten auf Föderalismus umzukrempeln?
Dies ist eine enorme Veränderung, die sicherlich noch einige Jahre benötigt, damit Stabilität entsteht. Daraus werden wir aber auch vieles lernen über das Verständnis von Demokratie in einer Gesellschaft wie jener von Nepal.
swissinfo.ch: Wie sehen Sie die Wirksamkeit von Frauenquoten, um die Kluft zwischen den Geschlechtern bei politischen Entscheidungen in Nepal zu verringern?
E.C.: Es war nötig und ein sehr guter Schachzug. So kann sich eine Demokratie festigen. Die gesellschaftliche Dynamik und die Rechenschaftspflicht werden gestärkt. Denn wie kann ein demokratischer Staat funktionieren, wenn die Hälfte seiner Bürger nicht mitbestimmen kann? Chancengleichheit sind bei der Deza seit Jahrzehnten ein wichtiges Thema, und über Quoten wird zunehmend diskutiert, nun ja auch in der Schweiz.
Schweiz und Nepal
Das ehemalige Königreich Nepal, das im Norden an China und im Osten, Süden und Westen an Indien grenzt, pflegt mit der Schweiz seit 60 Jahren bilaterale Beziehungen.
Die Schweiz unterstützt Nepal durch die Deza in den Bereichen ländliche Infrastrukturentwicklung, technische Aus- und Weiterbildung, Landwirtschaft, Migration und Staatsaufbau. Derzeit leben 101 Schweizerinnen und Schweizer in Nepal.
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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