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Wer auswandert, erhält ganz neue Beziehungen. Zu zwei Staaten.

Zwei Menschen mit Koffer zwischen Lastwagen
Seit 2015 wandern in Chile mehr Menschen ein als aus. Reuters / Claudia Morales

Politologin Victoria Finn erforscht das Wahlverhalten und Migration mit Schwerpunkt Chile. Sie betont, wie wichtig die Beziehung zum Herkunftsland ist.

Dr. Victoria Finn ist Politologin und forscht am European University Institute in Italien. Sie erhielt dieses Jahr den «Migration & Citizenship Best Dissertation Award» der American Political Science Association.

Am Rand der diesjährigen «Geneva Democracy Week» Anfang Oktober konnte swissinfo.ch mit Finn über ihre Arbeit zu Immigrant:innen und Emigrant:innen in Chile sprechen.

Ihre Perspektive auf das Thema ist kenntnisreich und neu gleichermassen. Auch Auslandschweizer:innen könnten sich in manchen von Finns Beobachtungen zu Emigrant:innen wiedererkennen.

swissinfo.ch: Sie forschen zum Stimmrecht von Migrant:innen, schwerpunktmässig in Chile. Wie ist die Situation in Chile?

Victoria Finn: In verschiedenen südamerikanischen Ländern gibt es tiefe Schwellen für Nicht-Eingebürgerte, so etwa auch in Ecuador. Das ist ein Grund, weshalb Südamerika mein Schwerpunkt ist. In Chile kann man ohne Staatsangehörigkeit wählen. Nach fünf Jahren können Ausländer:innen an allem teilnehmen: Kommunale und nationale Wahlen, Volksabstimmungen, Referenden, bei einfach allem.

Lachende Frau vor Bücherregal
Dr. Victoria Finn ist Max Weber Fellow am Europe University Institute, Italien. Für ihre Dissertation erhielt sie 2022 den APSA (American Political Science Association) Migration & Citizenship Best Dissertation Award. Dr. Victoria Finn

Uruguay hat ebenfalls ein liberales Wahlrecht, allerdings mit höheren Auflagen, so dass es in der Praxis schwieriger ist. In Chile muss man 18 Jahre alt sein, darf keine Vorstrafen haben und muss legal mit Papieren im Land sein. Dann kommt man auf die Wähler:innenliste.

Für Migrant:innen, die politisch mitreden wollen, scheint Chile also perfekt.

Ein Problem gibt es: Niemand informiert, dass man überhaupt auf der Wählerliste steht. Die Registrierung ist automatisch. Nicht alle Menschen wissen, dass sie wählen dürfen. Aber die Kenntniss darüber verbreitet sich stetig.

Niemand klärt über die politischen Rechte auf?

Genau. Es bräuchte nur eine Werbekampagne, dann wüssten alle Bescheid. Aber die gab es bisher nicht. Obwohl Chile eines der ersten Länder war, das Einwanderer:innen das Wahlrecht einräumte –  für lokale Wahlen schon in der Verfassung von 1925 – richten sich die meisten politischen Kampagnen noch immer nicht an Einwanderergruppen.

Hilft das Ausländerstimmrecht auch für bessere gesellschaftliche Inklusion?

Das ist eine schwierige Frage. Einige haben dies für die Schweiz untersucht, weil die Datenlage gut ist – sie vergleichen die Regionen mit Ausländerstimmrecht mit jenen ohne.

Soziale, wirtschaftliche und politische Rechte müssen alle vorhanden sein, damit die Integration gelingt. Fehlt eine Ebene, entsteht ein Ungleichgewicht. Niemand will sich ohne politische Stimme in der Gemeinschaft engagieren. Die Prioritäten der Integration sind individuell. Aber nach einiger Zeit wollen und können Menschen nicht einzig Arbeitskräfte sein. Das hat Deutschland mit dem Gastarbeiterprogramm und die Schweiz mit dem Saisonnier-Statut lernen müssen. Die Menschen brauchen auch sozial und politisch Zugang.

Wie gestaltet sich das auf der persönlichen Ebene?

Eine Person ist immer Einwanderer:in und Auswanderer:in gleichermassen, wie die Arbeit von Luicy Pedroza zeigt. Auf der individuellen Ebene ist es wichtig, die Bindungen und die Zugehörigkeit in beide Richtungen zu betrachten: Einwanderer sind auch Auswanderer. Die Venezolaner:innen, die ihr autoritäres Land verlassen haben, verfolgen immer noch was in Venezuela passiert. Das wirkt sich auf sie als Emigranten, aber auch auf ihr Leben in Chile aus, auf sie und ihr Umfeld. Die Gesellschaften müssen beide Seiten viel besser verstehen lernen.

Die Ankunftsländer sind, in der Regel, eher daran interessiert, dass sich Einwanderer:innen in irgendeiner Weise beteiligen, als dass sie sich isolieren. Ich denke, ihre Partizipation schafft eine Win-Win-Situation.

Bürger:in zu sein bedeutet, mitbestimmen zu können – hört man an der Geneva Democracy Week 2022 ständig. Was bedeutet es dann für Migrant:innen, sich beteiligen zu können? Manche würden sagen, wenn sie mitbestimmen, sind sie schon wie Bürger:innen.

Wenn sich Menschen beteiligen, praktizieren sie das Bürger:innen sein. Wie ich Interviews und Umfragen erlebte, ist die Motivation, sich politisch zu engagieren, ähnlich wie bei Menschen mit Staatsbürgerschaft. Auf menschlicher Ebene engagieren sich die Menschen in der Politik, weil sie das Wohlergehen aller sicherstellen und eine gut funktionierende Regierung wollen. Jede:r geht zur Wahl, um die besten zu wählen. Bei Migrant:innen ist die Ausgangslage einfach komplexer, weil sie in und zwischen zwei Ländern leben.

Das eine Land haben sie verlassen. Im anderen leben sie jetzt.

Eben. Einwanderer und Auswanderer zu sein, prägt einen als Person, nicht nur weil sich die Gesetze in den Ländern unterscheiden. Menschen, die ein Land verlassen, sind auf eine Weise anders. Ihr Lebensweg ist ein anderer. Der transnationale Aspekt verändert die Art, wie Menschen die beiden Gesellschaften und Staaten sehen und mit ihnen interagieren.

Wenn man in einem anderen Land lebt, verändert das Zugehörigkeit und Identität. Durch Migration entstehen zwei völlig neue Beziehungen: eine Beziehung zwischen Immigrant:innen und ihrem Aufenthaltsland und eine Beziehung zwischen Emigrant:innen und ihrem Herkunftsland. Dadurch ändert sich die Rolle in der Gesellschaft und gegenüber dem Staat komplett. Es kann auch Auswirkung auf die Wahlentscheidung haben.

Sind alle Staaten daran interessiert, dass ihre Emigrant:innen partizipieren?

In Demokratien? Auf jeden Fall. Die meisten wollen, dass die Emigrierten wählen. Aber Diaspora-Politik geht über die Frage von Demokratie oder Diktatur hinaus: Fast alle Länder wollen die Ausgewanderten nicht wegdrängen, denn sie wollen, dass sie zurückreisen, sie wollen, dass das Geld wieder in die Wirtschaft fliesst. Geldüberweisungen sind ein wichtiger Aspekt in vielen Diaspora-Beziehungen.

Wahrscheinlich haben manche Auslandschweizer:innen nicht das Gefühl, dass sich die Schweiz über ihre Stimme freut. Während der Pandemie haben beispielsweise viele ihre Abstimmungsunterlagen zu spät erhalten.

Identität, Nationalität und aktive Staatsbürgerschaft sind komplex und persönlich gleichermassen. Manche fühlen sich von ihrem Herkunftsland abgekoppelt, vielleicht ist jemand aus politischen Gründen ausgewandert und will nichts mehr damit zu tun haben. Alles kommt vor.

Ich vermute, in Chile ist die Emigrantengemeinschaft noch immer von der langjährigen Diktatur von Augusto Pinochet geprägt?

Die Chilen:innen im Ausland sind heute eine heterogene Gruppe. Es ist keine reine Exil-Community mehr, überhaupt nicht. Die Gruppe ist breit gefächert, in alle politischen Richtungen. Doch die chilenischen Emigrant:innen haben das Stimmrecht erst 2014 erhalten und 2017 erstmals gewählt. Es ist sehr neu.

Wer immigriert ist, durfte wählen, wer emigriert ist aber nicht?

Darüber werde ich demnächst einen Artikel schreiben: Chile ist ein aufschlussreicher Fall, weil es Vorreiter beim Wahlrecht für Einwanderer:innen und Nachzügler beim Wahlrecht für Auswanderer:innen ist. In Chile durften Immigrant:innen wählen, als es noch nicht sehr viele waren; jetzt dürfen Emigrant:innen wählen, obwohl es nicht sehr viele sind. Seit 2015 wandern aus Chile weniger aus als einwandern. Das Land hat eine Weile gebraucht, das zu erkennen

Politische Rechte für Emigrant:innen sind verbreitet – in über 130 Ländern dürfen Ausgewanderte an einigen Wahlen teilnehmen. In Chile hatten sie bis vor kurzem keinerlei politische Rechte. Viele Menschen hatten Angst, dass Exilant:innen politisch radikalisiert seien. Das ist nicht immer der Fall. Und auf der anderen Seite sehen wir jetzt das Gleiche bei den Venezolaner:innen.

Wie ist es da?

Die Venezolaner:innen, die 2016 nach Chile kamen, können jetzt wählen. Es gibt Ängste, wer von ihnen wählen wird und wen sie wählen werden. Aber die Menschen passen sich an neue politische Parteien und Systeme an. Migrant:innen können ideologisch flexibel sein. Sie müssen sich nicht mit einer radikalen Partei identifizieren, nur weil sie aus Land X kommen.

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