Das kann die Schweiz vom taiwanesischen Modell lernen
Taiwan hat in der Pandemie Sensationelles geschafft: Die Insel bekämpft die Ausbreitung des Coronavirus besser als jedes andere Land. Gleichzeitig baute die Regierung die Bürger:innenbeteiligung und Demokratie aus. Dieser einmalige Spagat ist stark mit einem Namen verbunden: Audrey Tang. An einer Veranstaltung, an der die Digitalministerin digital dabei war, blieb Schweizer Expert:innen vorwiegend eines: Staunen.
«Wir bekämpften die Pandemie ohne Lockdowns, die Infodemie ohne Zensur. Das verdanken wir nur der Kooperation mit den Menschen», sagte Tang. Ihr Credo, das über allem steht: «Wir arbeiten nicht für die Menschen, sondern mit ihnen zusammen.»
Die Bilanz fällt eindrücklich aus: Die Insel mit über 23 Millionen Einwohner:innen, die sich mit immer stärkeren Besitzansprüchen seitens von China konfrontiert sieht, weist bis heute knapp 16’500 Infizierte sowie knapp 850 Tote auf.
Der Vergleich dazu mit der Schweiz: knapp 900’000 Infizierte und fast 11’300 Todesopfer.
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Schauplatz Taiwan: Was die Schweiz und die Insel voneinander lernen können
Tang respektive Taiwan haben also die Latte sehr hochgelegt, was mögliche Learnings der Schweiz vom asiatischen Inselstaat betrifft.
Denn genau dies war der Titel der Veranstaltung in Zürich «Was die Schweiz vom taiwanesischen Modell lernen kann». Dazu befragte Nicola Forster, Präsident der organisierenden Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG)Externer Link vier Schweizer Expert:innen aus dem Bereich Civic Tech. Es ist dies die Förderung von Demokratie und Partizipation der Bürger:innen mit Digital-Technologie durch die Verwaltung. Der Stream der Veranstaltung wurde aufgezeichnet – Sie finden ihn hierExterner Link.
swissinfo.ch hatte Audrey Tang 2019 in Taipeh besucht. Statt der vereinbarten Stunde dauerte das Gespräch fast doppelt so lange. Die wichtigsten Punkte von Tangs Erklärungen mündeten in den Beitrag «Schauplatz Taiwan: Was die Schweiz und die Insel voneinander lernen können».
Mit der Veranstaltung in Zürich, an der rund 100 Gäste teilnahmen, hat die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) den von uns angestossenen Ball aufgenommen.
Aber zuerst hatte Audrey Tang das Wort – per Video- Interview, das SGG-Präsident Nicola Forster mit der ersten Digitalministerin der Welt vorgängig geführt hatte. Denn nach sieben Uhr abends tritt Tang nicht mehr auf, und das wäre aufgrund der Zeitverschiebung der Fall gewesen. Mit feinem Humor skizzierte Tang die Pandemie-Bekämpfung Made in Taiwan. Dass sie deren Architektin ist, verschwieg sie.
Geschwindigkeit
«Am 1. Januar 2020 habe ich den Kampf gegen die Pandemie auf drei Säulen gestellt: Fast, Fair und Fun – Geschwindigkeit, Fairness und Spass.» Zur Information und für Feedbacks sei sofort eine Plattform in Form einer öffentlichen und bürger:innen-orientierten Mailbox eingerichtet worden. «Dort können die Menschen berichten, was nicht gut funktioniert und sie machen Vorschläge, wo wir uns verbessern können.» Die Plattform stehe weder unter Kontrolle der Regierung noch von Shareholdern und sei frei Werbung.
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Audrey Tang, wie werden soziale Medien sozial?
Tang illustriert deren Funktionieren an einem Eintrag eines Schülers von April: «Er klagte darüber, dass er in seiner Klasse als einziger eine rosa Hygienemaske trug, während die anderen blaue hatten.
Darauf entschied der Verantwortliche für Bürger:innenbeteiligung im Gesundheitsministerium umgehend, dass an der täglichen Medienkonferenz alle Teilnehmenden rosa Masken tragen sollten. «Ab da waren rosa Masken hip und der Junge wurde über Nacht zum Helden», so Tang.
Hygienemasken
Sofort nach Ausbruch der Pandemie entwickelte Taiwans agile Civic Tech Community ein Set aus über 100 Karten, Apps und Bots. An alles wurde gedacht, auch an Stimmengeneratoren für Hörgeschädigte. So konnten sich die Menschen in Echtzeit informieren, wie viele Masken in den Apotheken in ihrer Nachbarschaft vorrätig waren. «Innerhalb weniger Wochen trugen bei uns 75% der Menschen eine Maske, was entscheidend war, damit wir den Reproduktionsfaktor unter 1 halten und damit die Pandemie abwehren konnten.»
Was Tang nicht erwähnte: Sie selbst entwickelte eine solche Info-App über Maskenvorräte in der Nachbarschaft.
Fake News
«Die Corona-Pandemie ist eigentlich eine Zwillings-Pandemie, handelt es sich doch gleichzeitig auch um eine Infodemie, weil die Menschen Angst haben. Da schwirren viele Falschinformationen herum, auch über die Wirksamkeit von Gesichtsmasken.» Diesen trat Tang mit humoristischen Kampagnen entgegen.»Wir propagierten das Tragen von Masken zum Schutz vor den eigenen, gewaschenen Händen. Und wir schufen Memes mit Hunden, um die Abstandsregel zu erklären: In Innenräumen sollen die Menschen drei Hunde der Rasse Shiba Inu Abstand halten, draussen zwei Hunde.»
Contact Tracing
«2020 hatten wir es den Besitzer:innen von Lokalen überlassen, ihre Gäste zu kontrollieren. Das tangierte den Schutz der Personendaten. Als in diesem Mai die Pandemie Taiwan erreichte, war sofort klar, dass die Menschen nicht mehr bereit waren, ihre Personendaten zu hinterlassen, um in ein Lokal zu gehen.»
Die Civic Tech Community entwickelte in Windeseile eine Methode, bei der Personendaten weder auf einer App noch von einem Unternehmen oder der Regierung gesammelt werden. «Es eine Art Post It Zettel, der bei den fünf Mobilfunkanbietern Taiwans hinterlegt wird. Doch diese können mit den Daten nichts anfangen, weil nur Spezialist:innen diese entschlüsseln können.»
Das Prozedere dauert nur eine oder zwei Sekunden: Man wischt über den gesperrten Handy-Bildschirm und hält die Kamera auf einen QR-Code. Dann geht automatisch ein Gratis-SMS mit dem Code des Lokals an die Telekom-Anbieter. Alle Daten werden nach 28 Tagen gelöscht.
Wirkung und Learnings
Tangs Ausführungen beeindruckten die Schweizer Civic-Tech-Expertinnen.
- Alessia Neuroni, Professorin und Verantwortliche für Digitale Verwaltung und E-Government des Kantons Zürich: «Audrey Tang hat es geschafft, Öffnung, Partizipation und technische Instrumente so einzusetzen, dass der Staat resilienter wird. Da haben wir noch Luft nach oben.»
Ihr grösstes Learning für die Schweiz: «Wir können effektiver mit Daten umgehen. Stellen Behörden der Öffentlichkeit ihre Daten zur Verfügung, fördert das die Meinungsbildung und ermöglicht bessere Entscheide. Dazu trägt das Modell der Ko-Kreation von Behörden und Zivilgesellschaft zur Verbesserung der Qualität des Service Public bei.» - Nikki Böhler, Geschäftsführerin Opendata.ch: «Ich bin auf vielen Ebenen beeindruckt. Erstens von der starken Partizipation der Zivilgesellschaft. Diese ist sehr engagiert und vom Staat sehr gut eingebunden, nämlich auf Augenhöhe.» Zweitens sei Taiwan die Nummer eins im globalen Open Data Index. Drittens werde die digitale Selbstbestimmung der Menschen geschützt. «Es ist vorbildlich, wie diese drei Bereiche zusammenkommen und was daraus möglich wird.»
Böhlers grösstes Learning: «Ich bin überzeugt, dass es uns weniger kostet, wenn wir die Zivilgesellschaft mehr einbinden und mehr Experimente wagen. Dann werden wir weniger in langfristige Projekte investieren und dann irgendwann merken, dass sie nicht funktionieren oder die Menschen der Technologie nicht trauen.» - Marcel Salathé, Professor an der ETH Lausanne und Mitentwickler der Schweizer Tracing App: «Ich habe in meinem Kopf Taiwans Digitalministerin Audrey Tang in die Schweizer Regierung hineingepflanzt. Danach habe ich mental den Weg nicht mehr aus dieser Vorstellung herausgefunden.
Es sei zwar richtig, dass wir in der Schweiz immer schauen, dass die Menschen Schritt halten könnten. «Aber ich frage mich schon, wie wir mehr Köpfe wie Audrey Tang in die Schweizer Politik bringen. Denn ist diese Energie dort einmal vorhanden, würde es auf die Bevölkerung abfärben,» sagte das Ex-Mitglied der Schweizer Wissenschafts-Taskforce und Gründer von CH++Externer Link, einer unabhängigen Organisation zur Entwicklung der Demokratie mit Wissenschaft und Technologie.
- Anna Schindler, Direktorin Stadtentwicklung Zürich: «Ich finde es sehr eindrücklich, wie sie in Taiwan auf das technologische Potenzial der Bürger:innen zugehen und was für Ideen sie haben. Damit haben sie die Menschen dazu gebracht, dass sie mitmachen. Da sind sie uns einen Schritt voraus.»
Schindlers Learning: Die bessere Nutzung des technologischen Potenzials. «Wir haben in der Pandemie zwar Dinge entwickelt, aber dann gemerkt, dass die Menschen gar nicht unbedingt so rasch auf den Zug aufspringen. Dazu aber braucht es auch einen Kulturwandel.»
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