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Das *innen wird die Welt verändern

Der Kampf der Frauen gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit findet nicht nur draussen auf der Strasse statt, sondern auch drinnen am Abwaschbecken. Norman Konrad/laif/Keystone

Von der Gesellschaft werden mir als Frau heute drei Optionen gegeben: a) hasse ich meinen Körper, b) mein Gesicht oder c) meinen Charakter. Ehrlich gesagt weiss ich nicht, wie ich selbstbewusst werden und auch nur ein einziges Ding pro Tag erledigen konnte vor lauter Selbstzweifeln, denn die Antwort war meistens d): alles.

Aber irgendwann wird man erwachsen, bla bla bla, findet zu sich, jadi jadi jadi, weint nicht mehr wegen Cellulite und Olivenöl ist nicht mehr Gift, sondern die beste Möglichkeit, Carbs in sich zu schaufeln. Kohlenhydrate sind plötzlich einfach etwas, das man isst, und nicht mehr der Staatsfeind Nr. 1, der zwischen uns und einem Pamela ReifExterner Link-Körper steht. Denn Pamela Reifs Körper ist schlicht der schöne Körper einer anderen Frau und nicht die einzige Möglichkeit, glücklich zu werden. Punkt.

Gülsha Adilji. Bild: Mirjam Kluka

«Die Welt ist immer noch ziemlich Scheisse für junge Mädchen und Frauen.»

Es gibt echt noch viel zu tun, damit sich dieses Gefühl nicht nur vereinzelt und vor allem erst nach 30 einstellt. Wir müssen noch heftigst an unserer Gesellschaft arbeiten, damit die kommenden Generationen nicht mit eingezogenem Bauch durch die Welt laufen müssen, sondern vielmehr den Sauerstoff für die Weltherrschaft verwenden können. Die Welt ist immer noch ziemlich Scheisse für junge Mädchen und Frauen.

Sogar in meinem woken Freundeskreis muss noch einiges passieren. Wenn ich meinen Mitbewohner, einen bekennenden Feministen, ganz neutral darum bitte, das Fenster zu schliessen, weil mir zu kalt ist, oder die Musik leiser zu machen, weil ich grad keine Lust auf lauten Electro habe, dann werden auch schon mal die Augen gerollt. Nicht meine, seine! Oder aber er atmet laut aus beiden Nasenlöchern und nuschelt dann «Du hast schon immer irgendwie was zu motzen» in seinen Pullover.

Die Autorin

Gülsha Adilji, geboren 1985, ist Schweizer Moderatorin und Autorin. Sie war die Stimme des Jugendsenders Joiz TV, und 2012 Journalistin des Jahres. Heute ist sie Teil der Schreibwerkstatt AtelieerExterner Link und widmet sich ganz ihrer Leidenschaft, dem Erzählen von Geschichten. 

Den vorliegenden Beitrag hat sie exklusiv für eine Veranstaltung von SWI swissinfo.ch geschrieben: Am 4. März (16-17.30 Uhr) diskutieren an einem Online-Panel die Klimaaktivistin Marie-Claire Graf, die Diversitäts-Expertin Estefania Cuero sowie Regula Stämpfli, Politikwissenschaftlerin und Spezialistin für Machtfragen, über die Kämpfe der Frauen von heute gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Sie können online dabei sein und mitdiskutieren – hExterner Linkier geht es direkt zur AnmeldungExterner Link.Externer Link Die Veranstaltung ist Teil der 13. Aarauer Demokratietage, die dem Thema «Frauen und Politik» gewidmet sind.

Das passiert echt erstaunlich oft: Wenn ich eine Meinung zu irgendetwas habe oder etwas gerne anders hätte, wird es als Rumgemotze – ergo als etwas nichts Ernstzunehmendes – verstanden. Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht eine Greis-Mitbewohnerin bin, die nicht mehr mit den jungen Leuten abhängen kann, weil ihr alles zu verrückt und unruhig ist; ich habe mich in Frage gestellt. Und dann war ich so «Nooo Girl, du kommst mit den Bingo-Wing-Armen klar und den Dehnungsstreifen, jetzt redet dir sicher niemand ein, dass du eine unchillige Person bist!»

«Wenn ich jedes Mal einen Shot trinken würde beim Satz ‹Hör auf rumzumotzen› – ich wäre schon tot.»

Hätte ich es laut gesagt, hätte ich dazu eine Sailor-Moon-Bewegung gemacht. Denn ich motze nicht, wenn ich etwas sage – ich sage es einfach. Fertig. Ich nörgle nicht, wenn ich meinen Mitbewohner darum bitte, sein Zeug abzuwaschen – ich sage es einfach. Mein Mitbewohner, er dient in diesem Text als Metapher für unsere Gesellschaft, macht gern und schnell Frauen zum Problem. Wenn ich «rummotze», bin ich das Problem und nicht das ungewaschene Geschirr. Wenn wir Frauen unsere Meinung äussern, dann sind wir ultraschnell bossy. Wenn wir etwas beanstanden, ist es Nörgeln, und wenn wir uns aufregen über eine Situation, sind wir hysterisch oder Drama Queens.

Das sitzt alles so tief, dass es echt irr wird, wenn man sich darauf achtet, wie oft Dinge so geframt werden. Wenn ich jedes Mal einen Shot trinken würde beim Satz «Hör auf rumzumotzen» – ich wäre schon tot.

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Und jesses, wie sich all meine Feminist*innen-Freunde über das *innen lustig machen können, sich darüber aufregen und mit Phrasen um die Ecke kommen, dass das doch total den Lesefluss beeinträchtige und es doch irgendwo auch mal gut sei. Nein, Pascal, es ist halt eben genau nicht mal gut, wir machen 50% der Bevölkerung aus und wollen nicht mehr mitgemeint werden. Dass man das immer noch allen erklären muss! Ausserdem ist unser aller Hirn absolut fähig, das das hinzukriegen und *innen flüssig zu lesen. Ihr Gehirn hat z. B. im vorhergehenden Satz das zweite «das» automatisch gelöscht. Also kriegen wir auch einen smoothen Lesefluss mit ein paar Sternchen hin.

«Man kann halt jetzt einfach auch mal die Fresse halten und diese Sternchen benutzen.»

Mein Life Hack an dieser Stelle für alle, die überfordert sind, weil sie jetzt halt auch «Ärzt*innen», «Polizist*innen», «Gauner*innen» sagen müssen oder Mühe haben, auf der Tastatur das Sternchen zu finden: Wir Frauen haben schon genug damit zu tun, Opfer von häuslicher Gewalt, von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen zu werden, und damit, dass Leute uns sagen, wir sollten öfter lächeln. Man kann halt jetzt einfach auch mal die Fresse halten und diese Sternchen benutzen. Und ja, wir haben AOCExterner Link und ja, da sind GretaExterner Link und LuisaExterner Link und Lisa ChristExterner Link. Das sind 0,0001%. Da fehlen aber noch 49%. Oder eigentlich 51%.

Es ist echt wahnsinnig anstrengend, das Patriarchat zu stürzen; alle diese Strukturen aufzubrechen, die immer noch mit aller Macht bewahrt werden, als wären es lose rumliegende Batterien, die unter Umständen noch funktionieren. Beides wird nicht mehr gebraucht, ist schlecht für die Umwelt und gehört auf den Sondermüll. Wir dürfen auf gar keinen Fall diese Aufgabe voll und ganz den jungen, «frechen» Frauen übertragen. Den AOCs oder Greta Thunbergs, den Rebellinnen, die mutig an der Front kämpfen. Das ist nämlich nicht einfach die Aufgabe der nächsten Generation. Wir können uns nicht zurücklehnen und diese Challenge an sie übertragen, wir müssen alle gemeinsam daran arbeiten.

0,0001% können nicht den Job von 100% übernehmen. Wir müssen Schulter an Schulter den übelriechenden Schleim aka Patriarchat wegschaufeln, damit die Generation Z nicht in zehn Jahren ausgebrannt ist – sie haben ja schon die Verantwortung für das Klima, das ist ja schon genug Burnout-Material – da müssen wir nicht noch alles andere draufpacken, was sonst noch so schiefgelaufen ist. Wir alle müssen Verantwortung übernehmen für Veränderung, und die beginnt im Kleinen.

Hier also mein Aufruf, Sie wissen selbst, wenn Sie gemeint sind: Sie können damit starten, dass sie Sternchen*innen anfangen zu verwenden und ganz oft, wenn Sie «nörgeln» oder «motzen» sagen wollen, einfach den Abwasch machen oder den Song von Oliver Koletzki etwas leiser stellen. Das würde auch den eigenen Selbstzweifeln helfen.

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