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Das Karussell der Listenverbindungen vor den Schweizer Wahlen

Nationalräte und Ständerätinnen im Café des Bundeshaus
Das Bundeshaus-Café, wo auch politische Pläne für Bündnisse geschmiedet werden. © Keystone / Alessandro Della Valle

In einem System, in dem es Gewinner:innen und Verlierer:innen gibt, gilt es, Bündnisse sorgfältig zu wählen. Gewisse lösen Kontroversen aus.

Am 29. Juli demonstrierte Nicolas Rimoldi, Präsident von Mass-Voll, einer Bewegung gegen die Pandemiemassnahmen, an der Seite von rechtsextremen Gruppierungen in Österreich. Zwei Tage danach hat die Solothurner Sektion der SVP eine Listenverbindung mit Mass-Voll angekündigt.

Die nationale Partei nimmt zu dieser Entscheidung keine Stellung. «Das ist keine Angelegenheit von uns. Die Kantonalsektionen sind frei in der Bildung von Allianzen, auch wenn wir Listenverbindungen mit der Freisinnig-demokratischen Partei (FDP) empfehlen», sagte SVP Schweiz-Präsident Marco Chiesa an der Pressekonferenz, die den Kampagnenstart der Partei markierte.

Nicolas Rimoldi mit einer Zigarre
Nicolas Rimoldi, Nationalratskandidat des Kantons Zürich und Präsident der Partei Mass-Voll!, nahm kürzlich an einer Kundgebung der europäischen Rechtsextremen in Österreich teil. © Keystone / Julien Grindat

Chiesa will sich aus gutem Grund nicht zu den Flirts seiner Kantonalsektionen äussern. Denn das Bündnis mit den Coronaskeptiker:innen in Solothurn wird der SVP alles in allem nicht schaden, folgt man dem Politologen Sean Müller. «Im Gegenteil, wenn dank dieser Listenverbindung im Bündnis ein zusätzlicher Sitz zu verteilen wäre, würde dieser an die SVP fallen. Innerhalb des Bündnisses werden die Gewinne entsprechend der Stimmen für die zwei Parteien verteilt. Die grössere Partei ist dann im Vorteil», erklärt er.

Das Rennen um die Allianzen

Die SVP ist nicht die einzige auf der Suche nach Partnerschaften. Im Wahljahr verhandeln alle Parteien mit potenziellen Bündnispartnern, um ihre Chancen auf Sitzgewinne zu optimieren. Das Schweizer System erlaubt Parteien, ihre Listen für den Nationalrat (dem Gegenstück zum deutschen Bundestag oder dem britischen Unterhaus) zu verbinden. Der Nationalrat wird ausser in Kantonen mit bloss einem Sitz nach dem Proporzsystem gewählt. Die Grundidee ist, dass auch kleine Parteien eine Chance haben, im Parlament repräsentiert zu sein.

Der Schlüssel für die Sitzverteilung ist abhängig vom Wahlsystem. Im Verhältnis- oder Proporzsystem werden die Sitze zunächst nach der Anzahl der erhaltenen Stimmen auf die Parteien aufgeteilt und dann den Kandidierenden mit den meisten Stimmen innerhalb der Liste zugewiesen. Beim Mehrheitswahl- oder Majorzsystem wird jene Person gewählt, die die meisten Stimmen erhalten hat.

Die Stimmen von zwei Gruppierungen in einer Listenverbindung werden als gemeinsamer Topf gezählt. Bei der Auszählung kommt dem Bündnis dann eine bestimmte Zahl von Sitzen zu, die entsprechend den erhaltenen Stimmen auf die Gruppierungen verteilt werden. Diese Rechnung geht aber nie genau auf. Mit Listenverbindungen wird versucht, die übrig gebliebenen Reste zusammenzulegen und einen weiteren Sitz zu ergattern.

Dieses System ist für die SVP eher ungünstig, denn es fällt ihr in der Tendenz schwer, Listenverbindungen mit anderen Parteien zu schaffen. Bei den letzten Wahlen büsste die grösste Partei der Schweiz sieben Sitze wegen der Listenverbindungen anderer Parteien ein, ergab eine Analyse des Tages-AnzeigersExterner Link. Aus diesem Grund hat der SVP-Präsident zu Allianzen mit der FDP aufgerufen, «um den Vormarsch der Linken zu verhindern». Dieser Wunsch ist zum Teil erfüllt worden, weil in vielen Kantonen FDP-SVP-Bündnisse geschlossen werden konnten.

Das Bündnis FDP-SVP schwächelt

In den Reihen der FDP hat der Vorschlag aber auch zu Spannungen geführt. Im Kanton Zürich stimmten die FDP-Delegierten nach heftiger Debatte mit nur einer Stimme für das Bündnis mit der SVP. Einige äusserten die Meinung, dass die FDP mehr von einem Alleingang profitieren würde, weil die beiden Parteien «grundlegend verschieden» seien.

Es ist in der Tat nicht sicher, ob ein Bündnis mit den Rechtskonservativen für die FDP von Vorteil wäre. Nach Berechnungen des Tages-Anzeigers hätte die FDP, wenn sie 2019 in allen Kantonen mit der SVP koaliert hätte, keinen zusätzlichen Sitz im Nationalrat erhalten. Die Annäherung könnte der FDP bei den Parlamentswahlen im Herbst eher zum Nachteil werden, meint Sean Müller, vor allem in Kantonen mit einer starken SVP wie Bern oder Zürich.

Zudem gehe es bei Listenverbindungen nicht nur um Mathematik. «Die sehr unterschiedlichen Positionen der SVP und der FDP zu bestimmten gesellschaftlichen Fragen oder zur Offenheit gegenüber der Europäischen Union machen es schwierig, ihre Listenverbindung zu erklären», beobachtet Sean Müller. Die FDP hat insbesondere die Migrationspolitik der SVP als unverantwortlich kritisiert, nachdem die SVP diese kürzlich auf einer Medienkonferenz präsentierte.

Die prägenden Stimmen der Partei argumentieren aber, dass eine Listenverbindung trotz Meinungsverschiedenheiten in bestimmten Bereichen möglich ist. «In unserem System müssen wir mit anderen Parteien zusammenarbeiten, um unsere Ideen durchzusetzen», verteidigte FDP-Präsident Thierry Burkart dies vor den Medien. «Die Linke hat sich nie gescheut, nützliche Allianzen zu schmieden», rechtfertigte die FDP-Abgeordnete Jaqueline de Quattro die Taktik.

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Die Strategie in der politischen Mitte

«Um die Kräfte der politischen Mitte zu bündeln», haben Die Mitte, die Grünliberalen (GLP) und die Evangelische Volkspartei (EVP) eine gemeinsame Strategie für die eidgenössischen Wahlen unterzeichnet. Die drei Parteien haben ihre kantonalen Sektionen dazu aufgerufen, Listenverbindungen zu bilden, was in sechs Kantonen bereits geschehen ist.

Die Parole scheint jedoch nicht überall angekommen zu sein. Die Grünliberalen haben sich in einigen Kantonen stattdessen für ein Zusammengehen mit der Linken entschieden, während sich Die Mitte in anderen Kantonen der FDP zugewandt hat. Im Tessin, im Jura und im Wallis gingen Die Mitte und die GLP überhaupt kein Bündnis ein.

Die Grünliberalen stimmen ab an ihrer Delegiertenversammlung.
Als kleine und relativ junge politische Partei ist die Grünliberale Partei in einigen Kantonen mit der Mitte und in anderen mit der Linken verbündet. © Keystone / Ennio Leanza

«Dass sich die Grünliberalen manchmal mit der Linken und manchmal mit Der Mitte verbünden, ist verständlicher als das Bündnis der FDP mit der SVP. Es handelt sich um eine kleine Partei, die somit das Bedürfnis hat, sich je nach Ausgangslage oder politischer Präferenz mit der einen oder anderen Partei zu verbünden», so die Einschätzung von Sean Müller. Die GLP ist jene Partei, die am stärksten von Listenverbindungen profitiert und 2019 fünf Sitze hinzugewonnen hat.

Die Mitte hatte vor vier Jahren dank ihrer Bündnisse zwei Sitze mehr erobert. Der Politologe Daniel Bochsler sagte gegenüber SRFExterner Link, er halte die Annäherung an die FDP in einigen Kantonen hingegen für riskant. Er erklärt, dass es besser sei, sich mit ungefähr gleich grossen Parteien zusammenzuschliessen, weil jene, die einen viel grösseren Partner wählen, oft verlieren.

SP und Grüne: Risse im linken Bündnis

Die Grünen und die Sozialdemokratische Partei (SP) haben es geschafft, in allen Kantonen Listenverbindungen für die Nationalratswahlen zu schaffen. Das Bündnis ist jedoch nicht perfekt: Im Rennen um den Ständerat (dem Gegenstück zum britischen Oberhaus) treten Anzeichen von Uneinigkeit auf. In Neuenburg und im Jura, den beiden einzigen Kantonen, in denen die Ständerät:innen nach dem Proporzwahlrecht gewählt werden, konnten sich die beiden Parteien nicht auf eine Kandidatur einigen. In Bern entschieden sich die sozialdemokratische Kandidatin und der grüne Kandidat für eine getrennte Liste.

Doch Sean Müller erkennt keine Gefahr für eine Scheidung der Linken. Der Politologe ist der Ansicht, dass diese Reibungen die Linke nicht daran hindern, im Parlament und in ihren Wahlempfehlungen einen einheitlichen Block zu bilden. «Die beiden Parteien sind in der Minderheit und sehr ähnlich. Wenn es Risse gibt, dann sind sie eher temporärer oder persönlicher Natur. Sie haben ein Interesse daran, sich weiterhin zu verbünden, und das wissen sie auch», stellt Müller fest.

Innerhalb einer Listenverbindung können zwei oder mehr Listen auch beschliessen, sich in einer Unterlistenverbindung zusammenzuschliessen. Neben einer Hauptliste, auf der oftmals die Spitzenkandidat:innen stehen, kann eine Partei auch eine oder mehrere Unterlisten aufstellen, deren Stimmen das Ergebnis der Partei erhöhen.

Diese Möglichkeit wurde in diesem Jahr aufgrund einer Änderung der Bundesrichtlinien für die Nationalratswahlen eingeschränkt. Während zwei oder mehr Parteien ihre Listen miteinander verbinden können, sind Unterlistenverbindungen nun nur noch zwischen den unterschiedlichen Listen einer Partei möglich, die sich nach Alter, Geschlecht oder Region unterscheiden.

Beispielsweise war es im Kanton Neuenburg üblich, dass die SP, die Grünen, die kommunistische Partei der Arbeit (PdA) und SolidaritéS eine breite Listenverbindung eingingen. Dieses Bündnis wurde durch eine Unterpaarung zwischen den drei letztgenannten Gruppierungen ergänzt. Dies ist nun nicht mehr möglich.

Stattdessen können die Grünen noch eine Unterlistenpartnerschaft mit ihrer neuen Liste, der Liste der Jungen Grünen Neuenburg, eingehen.

Übertragung aus dem Französischen: Benjamin von Wyl 

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