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Debatte fokussiert auf ein überholtes Familienmodell

Männer, die ihr Arbeitspensum reduzieren, um sich um die Kinder zu kümmern, sind noch selten. Ex-press

In der Diskussion über die SVP-Familieninitiative werden häufig zwei Familienmodelle gegeneinander ausgespielt: Die traditionelle Familie mit Müttern als Hausfrauen gegen jene mit erwerbstätigen Müttern. Man diskutiere über eine "alte romantische Vision", die von der Realität überholt sei, sagt ein Politologe.

Das Schweizer Stimmvolk wird  am 24.November über die von der Schweizer Volkspartei (SVP) lancierte Familieninitiative befinden. Die Initiative verlangt, dass Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen, für die Kinderbetreuung einen mindestens gleich hohen Steuerabzug geltend machen können wie Eltern, die ihre Kinder fremdbetreuen lassen.

Neben der SVP wird die Initiative nur von der Evangelischen Volkspartei (EVP)  und einer starken Minderheit der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) unterstützt.  Alle anderen politischen Parteien sprachen sich dagegen aus. Gleichwohl scharte die Initiative gemäss der ersten Umfrage des Instituts gfs.bern von Mitte Oktober im Stimmvolk eine Mehrheit von 64 Prozent hinter sich.

Die Gegner der Initiative haben danach mobilisiert, um Gegensteuer zu geben. Dabei konzentriert sich die Debatte auf die unterschiedlichen Familienmodelle. Die Gegner der SVP-Initiative behaupten, die Initiative fördere einzig traditionelle Familien, in denen die Mutter zu Hause am Herd bliebe. Die Befürworter der Initiative meinen, die  Regelung erlaube es, dass Mütter frei  wählen können, ob sie lieber erwerbstätig sein oder sich in Vollzeit um die Kinder kümmern wollten. 

Debatte konservativer als Realität

In einer im Auftrag der SonntagsZeitung durchgeführten Erhebung hat Michael Hermann aufgezeigt, dass es grosse sprachregionale Unterschiede in Bezug auf die Berufstätigkeit von Müttern gibt.

Generell ist der Anteil an Hausfrauen in der italienischen Schweiz mit rund 37 Prozent am höchsten. Nur 26,4 Prozent sind erwerbstätig mit einem Pensum von mindestens 70 Prozent.

Die wenigsten nicht-berufstätigen Mütter leben dagegen anteilsmässig in der Romandie (19,7 Prozent). Eine Mittelposition nimmt die Deutschschweiz mit 25,1 Prozent ein.

Der Anteil von Müttern mit Vollzeiterwerb (mindestens 70 Prozent) beträgt in der deutschen Schweiz 24,4 Prozent, in der französischen Schweiz 41,1 Prozent.

(Quelle: Michael Hermann, sotomo)

«Traditionalisierung der Familie»

Die grosse Zustimmung zur Initiative in der ersten Umfrage scheint nahezulegen, dass die Mehrheit im Volk das traditionelle Familienmodell bevorzugt. Tatsächlich kommt François Höpflinger, Soziologieprofessor an der Universität Zürich, in einem Interview mit den Tageszeitungen «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» zum Schluss: «In den letzten Jahren hat eine bemerkenswerte Traditionalisierung stattgefunden: In vielen Dingen haben die Leute wieder konservativere Vorstellungen und Werte als noch in den 1980er-Jahren.»

Für den Politologen Michael Hermann «findet die Rückkehr zu den traditionellen Werten vor allem auf einer diskursiven Ebene statt. In Gesprächen lässt sich diese konservative Einstellung feststellen, aber die soziale Realität ist eher progressiver geworden.» Gemäss Hermann sprechen die Zahlen eine andere Sprache: «Die Zahl der Scheidungen nimmt noch zu, die Frauen sind bei der Geburt ihres ersten Kindes immer älter, die Zahl der erwerbstätigen Mütter sowie von Frauen mit akademischer Ausbildung nimmt nach wie vor zu. Hausfrauen stellen eine Minderheit dar.»

Gleichzeitig stellt Hermann fest: «Es stimmt, dass zur Zeit in der Bevölkerung nicht nur die modernen Familienmodelle mit erwerbstätigen Frauen etwas zählen. Das konservative Modell ist nicht prinzipiell als überholt betrachtet, auch wenn es in der Realität immer weniger gelebt wird. Das Hüten der Kinder im eigenen Heim durch die Mutter wird durchaus positiv gesehen.»

Realistischere Romandie 

Das gilt insbesondere für die deutschsprachigen Regionen der Schweiz. Nicht nur in der Schweiz, sondern generell im deutschsprachigen Raum ist «die alte romantische Ansicht immer noch weit verbreitet, wonach ein Kind eine Mutter braucht und fremdbetreute Kinder vernachlässigt sind», hält Hermann fest.

Die französische Schweiz steht hingegen unter dem kulturellen Einfluss Frankreichs, wo es längst normal ist, dass Mütter erwerbstätig sind. Darum stört man sich auch nicht an einer Fremdbetreuung.

Wohl nicht zufällig findet im Moment auch in Deutschland eine ähnliche Debatte wie in der Schweiz statt. Gemäss dem Zürcher Politologen Hermann gleichen die Vorschläge der Christlich-Sozialen Union (CSU) denjenigen der Schweizer Volkspartei. Kritiker sprechen immer wieder von  einer «Herdprämie».

François Höpflinger ist überzeugt, dass weder eine Annahme noch eine Ablehnung der SVP-Volksinitiative viel ändern wird: «Ich denke nicht, dass  junge Menschen an Steuerabzüge denken, wenn sie eine Familie gründen. Es werden sicher keine Frauen auf eine Erwerbstätigkeit verzichten. Genauso wenig kommen patriarchale Strukturen zurück.»

Einen Trendwechsel hält auch François Hainard, Soziologieprofessor an der Universität Neuenburg, für ausgeschlossen, wie er in einem Interview mit der Westschweizer Tageszeitung Le Temps erklärte: «Die Schweizer Wirtschaft braucht Arbeitskräfte. Viele Frauen studieren und wollen ihre Kompetenzen zum Einsatz bringen. Ein zweites Erwerbseinkommen ist auch aus finanziellen Gründen häufig unabdingbar. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, in der alle einen bestimmten Lebensstandard halten wollen. Zudem sind Haushalte mit zwei Elternteilen schon gar nicht mehr die Regel.»

In der Schweiz ist die Familienpolitik Sache der Kantone und teilweise der Gemeinden. Der Bund hat nur sehr beschränkte Einwirkungsmöglichkeiten: Er kann ergänzende und fördernde Massnahmen beschliessen.   

Aus diesem Grund sind die zahlreichen Aspekte der Familienpolitik unterschiedlich geregelt. Dazu kommen die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte und die unterschiedlichsten Auffassungen der politischen Parteien bei der Familienpolitik.

So ist die Möglichkeit eines Steuerabzugs bei der Eigenbetreuung von Kindern, wie sie am 24. November  landesweit zur Abstimmung steht, beispielsweise in zwei Kantonen – Wallis und Zug – auf kantonaler Ebene bereits umgesetzt.

Der Versuch, dem Bund mehr Einflussmöglichkeiten in familienpolitischen Fragen zuzugestehen, scheiterte am vergangenen 3.März in einer Volksabstimmung just am föderalistischen System. Die Mehrheit der Stimmenden (54,3 Prozent) hatte zwar dem neuen Bundesbeschluss über die Familienpolitik  zugestimmt, der dem Bund die Aufgabe anvertraute, die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit zu fördern.

Doch die Vorlage scheiterte am Ständemehr: 15 Kantone sagten Nein, nur 11 sagten Ja (alle lateinischen Kantone sowie die beiden Basel, Zürich und Solothurn).

Die Sorgen des Mittelstands

Die Diskussion um die richtige Familienpolitik wird mit Sicherheit nicht am 24. November abgeschlossen sein. Zwei weitere Volksinitiativen zur Familienpolitik, die von der CVP lanciert wurden, sind hängig und werden voraussichtlich bis Ende 2014 zur Abstimmung kommen.

Die Initiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» fordert, dass Ehepaare nicht  finanziell benachteiligt werden, weder bei den Steuern noch bei den Sozialversicherungen. Die zweite Initiative forderte eine Steuerbefreiung für Kinder- und Ausbildungszulagen.

Die eidgenössische Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf hat ihrerseits vor kurzem angekündigt, dass ihr Departement einen Systemwechsel von Steuerabzügen hin zu Kinderzulagen prüft. Der Vorschlag soll nächstes Jahr dem Parlament unterbreitet werden.

«Die Debatte um die richtige Familienpolitik ist auch eine Debatte über den Mittelstand, der viele Lasten tragen muss und Einkommensbussen zu verzeichnen hatte. Der Mittelstand war immer wichtig für die politischen Parteien. Doch erst in den letzten Jahren hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Kinder auch ein finanzielles Risiko für die Familien des Mittelstands bedeuten können», meint Michael Hermann.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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