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Die Sprengkraft der «Diktatur»-Polemik

So sieht Diktatur aus: Weissrussische Polizisten prügeln mit Gummiknüppeln auf einen Demonstranten ein, der in Minsk gegen Langzeitherrscher Lukaschenko und dessen Wahlbetrug protestierte. Von der Gewalt der Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden von letztem Sommer gibt es noch weit brutalere Aufnahmen. Copyright 2020 The Associated Press. All Rights Reserved

Wer aktuell im Ausland die Nachrichten aus der Schweiz verfolgt, muss staunen: "Die Schweiz ist eine Diktatur", sagt die grösste Partei im Land. Ist die Musterdemokratie Schweiz in Gefahr? Nein. Die "Diktatur"-Rhetorik fürs Ausland einfach erklärt.  

«Die Schweiz ist eine Diktatur» ist die helvetische Version von Donald Trumps Mantra der «gestohlenen Wahl» – beide Behauptungen entbehren faktischer Grundlage.

Aber dahinter steckt politisches Kalkül: Die Schweizer Regierung zu schwächen – insgesamt, nicht nur in deren Kampf gegen die Pandemie, die in diesen Tagen in der Schweiz das zehntausendste Opfer fordern wird.

Rückblende: Am 16. März 2020 erklärt der Bundesrat in der Schweiz die «ausserordentliche Lage». Dies gestützt auf das so genannte Epidemiengesetz. Dieses verleiht der Regierung in Gesundheitskrisen wie einer Pandemie die Kompetenz, rasch wirksame Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu verhängen.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Renat Kuenzi

Debatten-Kultur: Geht die SVP mit dem «Diktatur»-Vorwurf an den Bundesrat zu weit?

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Tempo vs. Virus

Da in einer solchen Situation Tempo ein entscheidender Faktor ist, erlaubt das Gesetz der Regierung eine radikale Abkürzung – sie darf die Mühlen von parlamentarischen Beratungen und Anhörungen ausnahmsweise umgehen.

Der Vorwurf der «Diktatur» folgt postwendend: Am 9. April 2020 sieht SVP-Chefstratege und Milliardär Christoph Blocher auf seinem Internet-Haussender beim Bundesrat eine «unglaubliche Macht» vereint. Blocher sagt: «Das ist eine Diktatur».

Zehn Monate später, am 12. Februar 2021, legt er an gleicher Stelle nach und bezeichnet den Gesundheitsminister Alain Berset – der Mitglied der sozialdemokratischen Partei ist – als «Diktator».

Gleichentags sagt seine Tochter, die Unternehmerin und SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher, in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung: «Der Bund hat eine Diktatur eingeführt. Er hat die Demokratie ausgeschaltet.»

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«Schweiz ist der Goldstandard der direkten Demokratie»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Vergleichende Politik ist das Metier von David AltmanExterner Link. Der Professor an Pontificia Universidad Católica von Chile ist Ko-Leiter des Forschungsprogramms V-DemExterner Link. Darin hat eine 3000-köpfige Forschergemeinde 400 Indikatoren aufgestellt, anhand deren sie 200 Ländern auf den Zahn der Demokratie fühlt (mehr dazu siehe Box). 2014 veröffentlichte er das Buch «Direct Democracy Worldwide». Auf…

Mehr «Schweiz ist der Goldstandard der direkten Demokratie»

Am 24. Februar schliesslich übernimmt SVP-Parteichef Marco Chiesa, seit einem halben Jahr im Amt, das Diktum: Die Schweizer Regierung übe in der Corona-Pandemie eine «Alleinherrschaft» aus und regiere mit «Willkür», so der Tessiner Ständerat gegenüber dem Tages-Anzeiger. Die Schweiz sei heute «eine rechtliche Diktatur».

Das Doppelspiel

Damit hat sich die ganze Nomenklatura der einst von Christoph Blocher geführten grössten Schweizer Partei wieder hinter dem «Übervater» vereint. Es ist der Kraftakt des 81-jährigen Rechtspolitikers, der die Schweizer Politik fast ein Vierteljahrhundert vor sich hergetrieben hatte.

Das Vertrauen der Menschen in die politischen Institutionen wirkt als Klammer, die das Land zusammenhält.

Doch sind diese Vorwürfe gar Anlass zur Sorge um die Musterdemokratie Schweiz?

Nein. Der beste Beweis sind die Blochers, Chiesas & Co. selbst. Hätten sie recht, wären sie von Sicherheitskräften längst verhaftet worden oder ihnen wäre gar Schlimmeres passiert. Diktaturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie für Gegner keine Gnade kennen.

Wer die Schweiz als Diktatur sehe, verharmlose eine real existierende Diktatur, sagte Mitte-Präsident Gerhard Pfister gegenüber dem Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Pfister erinnert daran, dass es SVP-Exponenten waren, die bei den Demonstrationen der Klimajugend die Wahrung des Rechtsstaats forderten.

Nun werde dazu aufgerufen, diese rechtstaatlichen Regeln zu brechen. Pfister: «Damit insinuiert man, dass man sich auch mit nicht rechtsstaatlichen Mitteln, also mit Gewalt, gegen diese angebliche Diktatur wehren soll.»

Die Schweiz hatte ein Notstandsregime

Ja. Der Bundesrat ermächtigte sich am 16. März 2020 selbst, die demokratische Schweiz in einen Exekutivstaat zu transformieren. Es gab kein Parlament mehr und mit den Corona-Massnahmen hebelte die Exekutive die Grundrechte aus – inklusive der direkten Demokratie.

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Das Regieren per Notrecht ist in der Demokratie in der Tat der gravierendste Schritt, weil sämtliche Mechanismen zu Kontrolle und Ausgleich sowie liberale Grundrechte ausser Kraft sind. Insbesondere Gewaltentrennung und Föderalismus sowie Wirtschafts- und Versammlungsfreiheit.

Exit nach zwei Monaten

Doch das Notrechts-Regime des Bundesrats dauerte nur zwei Monate. Dann hob er die «ausserordentliche Lage» auf und somit seine Alleinherrschaft. Das Parlament tagte wieder und überführte im Mai 2020 die notrechtlichen Massnahmen in ordentliches Recht – in das so genannte Covid-19-Gesetz. Dessen laufende Anpassung an die Pandemie-Realität ist auch Thema an der Frühlingssession des Schweizer Parlaments, die aktuell läuft.

Das Epidemiengesetz – das Tor zur Diktatur?

Theoretisch ja. Dann, wenn die Regierung den «Ausnahmezustand» mittels «ausserordentlicher Lage» unbefristet weiterführen würde. Das Epidemiengesetz selbst ist aber mit den höchsten demokratischen Weihen versehen: 2003 durch das Parlament verabschiedet, hiess das Volk 2013 das revidierte Gesetz in einer Referendumsabstimmung an der Urne gut.

Statt «Diktatur» zu rufen, könnte die SVP im Parlament auch eine erneute Revision anschieben. Demokratische Debatte und populistische und faktenfreie Behauptungen sind zwei Paar Schuhe: Während die Diskussion über die Verhältnismässigkeit von Massnahmen zum ABC der Demokratie zählt, sind letztere eine Bedrohung für die Demokratie.

Wieso kommt der «Diktatur»-Vorwurf jetzt wieder?

Der Zeitpunkt ist kein Zufall. Im Kampf gegen die zweite Pandemiewelle hat der Bundesrat mit seiner unentschlossenen Haltung viel Vertrauen verspielt. Gleichzeitig macht sich im Land «Corona-Müdigkeit» breit, die sich in vermehrter Kritik an den Massnahmen und Widerstand äussert. Mitte Februar haben fast 300’000 Personen mittels Petitionen die sofortige Öffnung von Läden und Restaurants gefordert.

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Während das Land in der ersten Pandemiewelle vor einem Jahr unter Führung der Regierung zusammenrückte, driften jetzt die Stimmungen auseinander. Durchhalteparolen kontrastieren mit Forderungen nach schneller und vollständiger Öffnung. Jene, die sich hinter die Massnahmen der Landesregierung stellen, streiten mit Coronaskeptikern und Maskenverweigerern und diese wiederum streiten mit der Polizei.

Ganz offensichtlich hat die SVP die «Coronamüden» und die Bundesrats-Skeptiker im Visier. Sie will ihnen eine Heimat bieten, und sie werden immer mehr.

Sind die «Diktatur»-Vorwürfe ernst zu nehmen?

Was ihre mögliche Wirkung betrifft, ja. Denn die SVP spielt mit dem Feuer: In der sehr heterogenen Schweiz mit den 26 Kantonen und den sehr diversen Kulturen wirkt das Vertrauen der Menschen in die politischen Institutionen als Klammer, die das Land zusammenhält.

An oberster Stelle steht hier der Bundesrat. In den vier Abstimmungen jährlich mit ihren zahlreichen Vorlagen ist der Bundesrat gewissermassen zum Siegen an der Urne verdammt. Häufen sich Niederlagen, droht das Land unregierbar zu werden. Dann könnte es mit der nach wie vor bemerkenswerten Stabilität in der Schweiz schnell vorbei sein.

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