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«Den Ärmsten der Armen hilft der Mindestlohn nicht»

Aktion vor dem Bundeshaus in Bern: Gefordert wird ein landesweiter Mindestlohn. Keystone

Die neue deutsche Bundesregierung will ihn einführen, in der Schweiz wird er heiss diskutiert: der Mindestlohn. Für den Wirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar ist er weder für Deutschland noch für die Schweiz ein geeignetes politisches Instrument.

Der gebürtige Schweizer Thomas Straubhaar leitet das Hamburgische Weltwirtschafts-Institut (HWWI) und ist Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere für internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg.

swissinfo.ch: Am Dienstag wurden in Berlin die Minister der Grossen Koalition vereidigt. Was halten Sie von der neuen Bundesregierung?

Thomas Straubhaar: Sie ist der kleinste gemeinsame Nenner zwischen zwei Parteien, die historisch immer Gegenpole gebildet haben, durch das Wahlergebnis aber gezwungen waren zusammenzufinden. Im Wesentlichen teile ich zwar die Kritik des Sachverständigenrates (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, ein Gremium der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung, Anm. d. R.), der das Fehlen eines wirtschaftlichen Konzeptes bemängelt.

Aber vielleicht sollte man das gelassener sehen. Die Zeit grosser Reformwürfe ist vorbei, und vielleicht sind grosse Koalitionen einer Zeit angemessen, in der Politik eher eine Art schrittweise Anpassung an ständig geänderte Rahmenbedingungen darstellt.

swissinfo.ch: Was ändert sich mit der neuen Regierung für die Schweiz?

T.S.: Aus Schweizer Sicht sollte man das Ergebnis dieser Wahl nicht überbewerten. Auf der wirtschaftlichen Ebene sind die Deutschen und die Schweizer so eng verflochten, und im Alltag läuft es alles in allem so gut, dass die Schweizer nicht in Sorge sein sollten, dass nun grosse Änderungen anstehen.

Keystone

swissinfo.ch: Eine Bedingung der Sozialdemokraten für die Grosse Koalition war die Einführung eines Mindestlohns. Ab 2015 soll nun jeder Arbeitnehmer in Deutschland 8.50 Euro pro Stunde verdienen. Ein guter Entscheid für Deutschland?

T.S.: Für die deutsche Wirtschaft und deren internationale Wettbewerbsfähigkeit hat der Mindestlohn meiner Meinung nach keine grosse Bedeutung. Die deutsche Wirtschaft hat in den letzten Jahren enorm an Stabilität gewonnen. Die Exportstärke ist Legende geworden, und die deutsche Wettbewerbsfähigkeit ist im europäischen Vergleich herausragend. Diese grundsätzlichen Vorteile wird die Politik nicht beeinträchtigen können.

Eine ganz andere Frage ist, was ein Mindestlohn sozialpolitisch bedeutet. Da, so würde ich sagen, hilft er in keiner Art und Weise denjenigen, die man im Fokus hat.

Man will ja sicherstellen, dass wer anständig arbeitet, auch anständig bezahlt wird. Das gilt zwar für diejenigen, die Arbeit haben. Doch auch wenn der Mindestlohn nun nicht zu einem grossen Beschäftigungsabbau führen wird, wird er ganz sicher auch nicht zu einem grossen Beschäftigungsaufbau führen. Genau den Ärmsten der Armen – den Langzeitarbeitslosen, den Geringqualifizierten – wird er das Leben schwieriger und nicht einfacher machen.

In Deutschland

Laut Koalitionsvertrag soll der Mindestlohn ab dem 1. Januar 2015 kommen und deutschlandweit 8.50 Euro pro Stunde betragen (das sind gut 10 Franken). Zum Beispiel für bereits bestehende Branchen-Mindestlöhne gilt eine Übergangsfrist bis 2017.

Die Höhe des Mindestlohnes soll in regelmässigen Abständen von einer Kommission überprüft werden, deren Mitglieder von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften benannt werden. Für Auszubildende, Praktikanten oder ehrenamtlich Tätige soll der Mindestlohn nicht gelten.

Schweizer Initiative

Die Schweizer Mindestlohn-Initiative, getragen von den Gewerkschaften, der Sozialdemokratischen Partei und den Grünen, fordert einen Mindestlohn von gut 22 Franken pro Stunde bzw. 4000 Franken pro Monat.

Die Initiative soll nächstes Jahr zur Abstimmung kommen. Der Bundesrat und das Parlament empfehlen dem Stimmvolk, die Initiative abzulehnen.

swissinfo.ch: Aber in Deutschland gibt es einen riesigen Mindestlohnsektor. Viele Millionen Menschen arbeiten in Vollzeit und können trotzdem nicht für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Wie kann das sein?

T.S.: Wir sind uns darüber einig, dass das nicht sein kann. Aber gerade der wirtschaftliche Aufschwung, die Stabilität und die Wettbewerbskraft der letzten Jahre waren das sozialpolitisch wirkungsvollste Instrument, um immer mehr Menschen wieder in Arbeit – auch in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung – zu bringen.

Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist heute höher als jemals zuvor im wiedervereinigten Deutschland. Und die Arbeitslosigkeit ist geringer als jemals zuvor.

Es darf nicht sein, dass in diesem Land Menschen mit ihrer Arbeit nicht genug verdienen. Aber der Mindestlohn ist das völlig falsche Instrument, denn er wird dazu führen, dass einige Leistungsschwächere gar nicht erst in den Genuss einer Arbeitsstelle kommen.

Wir wissen übrigens auch, dass der Mindestlohn vor allem Personen zugutekommt, die gerade nicht zu den Ärmsten der Armen gehören, zum Beispiel Zweitverdiener und Menschen, die in ihrer Familie andere Einkommen haben.

Für alleinerziehende Mütter hingegen ist der geplante Mindestlohn dann wiederum viel zu gering, um anständig leben zu können. Es ist viel klüger, diese Menschen direkt und gezielt durch finanzielle Transfers aus den steuerfinanzierten Sozialkassen zu unterstützen.

swissinfo.ch: Auch in der Schweiz gibt es eine Mindestlohn-Initiative.

T.S.: Gerade der Schweiz würde ich dringend abraten von einem Mindestlohn. Dort gibt es ja im Prinzip bereits Mindestlohnvereinbarungen. Da braucht wenig nachgebessert zu werden.

Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz ist international auf beneidenswert tiefem Niveau. Auch das grundsätzliche Problem, dass wer anständig arbeitet, nicht anständig leben kann, gibt es in der Schweiz nicht in dem Masse wie andernorts. Und gerade in der Schweiz würde ich grundsätzlich alle Eingriffe in den Arbeitsmarkt ablehnen, denn sie ist sehr gut gefahren mit ihrem hochflexiblen Arbeitsmarkt.

Im Gegensatz zur Mindestlohn-Initiative erachte ich jedoch die Volksinitiative zu einem bedingungslosen Grundeinkommen von der grundsätzlichen Stossrichtung her für richtig. Aber es stellt sich natürlich die Frage, wie hoch ein solches Grundeinkommen ausfallen sollte.

Die Beträge, die dabei genannt werden, sind meines Erachtens utopisch hoch und damit nicht zielführend. Die Kosten und die Finanzierung würden zu so vielen negativen Nebeneffekten führen, dass der Wohlstand in der Schweiz nicht gefördert würde, sondern gefährdet wäre.

swissinfo.ch: Was sind das für negative Effekte?

T.S.: Wenn Sie ein Grundeinkommen in der Höhe, wie es in der Schweiz angedacht ist, gesetzlich verankern, dann werden die Leute nicht mehr bereit sein, soviel zu arbeiten, wie sie das heute in der Schweiz tun.

Auf der anderen Seite müssten Sie die Einkommen derjenigen, die eine Arbeit haben, so hoch besteuern, dass sie damit deutlich höhere Steuersätze als heute hätten. Das mindert den Leistungswillen, die Leistungsanreize.

swissinfo.ch: Zurück zum Mindestlohn: Gegner der Initiative befürchten, ein solcher Minimallohn hätte mehr Zuwanderung zur Folge.

T.S.: Ich halte diese Diskussion über zu viel Einwanderung und die «Das Boot ist voll-Philosophie» für die Schweiz für kontraproduktiv. Die Schweiz ist existenziell auf die Zuwanderung von gut Qualifizierten angewiesen. Sie war es immer und sie wird es auch noch lange bleiben.

Denn die wichtigste Ressource der Schweiz ist ihr Humankapital. Und alles, was zu Verbesserung und Mehrung dieses Humankapitals beiträgt, ist auf jeden Fall auch für die Volkswirtschaft in der Schweiz positiv zu bewerten. Deshalb ist eine Zuwanderung von Fach- und Führungskräften für die Schweiz von herausragender volkswirtschaftlicher Bedeutung.

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