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Nach dem Atomausstieg bleiben Berge von nuklearen Abfällen

Alle Abfälle aus den Schweizer Kernkraftwerken werden noch während mehreren Jahrzehnten im Zwischenlager Würenlingen gelagert bleiben, bis eine endgültige Lösung für die Lagerung von radioaktivem Material in der Tiefe gefunden wurde. Keystone

Die Schweiz wird in den nächsten Jahren ihre fünf Atomkraftwerke ausser Betrieb nehmen. Der Zeitpunkt hängt vom Volkswillen ab. Sicher ist jetzt schon: Auch nach dem Ausstieg aus der Atomenergie werden die mit Radioaktivität verbundenen Gefahren noch lange bestehen bleiben. Denn die Endlagerung radioaktiver Abfälle ist bis heute nicht gelöst.

Die fünf Schweizer Atommeiler produzieren jedes Jahr genau 75 Tonnen an abgebrannten Brennelementen. Geht man von einer Laufzeit von 47 Jahren für das Kernkraftwerk Mühleberg aus, das mit Sicherheit spätestens im Jahr 2019 stillgelegt wird, und von 60 Jahren für die anderen vier Kernkraftwerke – der maximal möglichen Laufzeit –, wird bis zum Ende des Atomzeitalters ein Berg von 4600 Tonnen Atommüll vorhanden sein.

Radioaktiver Abfall

Die Rückstände aus den Atomkraftwerken werden in der Regel in drei Kategorien unterteilt:

Hochaktive und persistente Nuklear-Abfälle: Vor allem abgebrannte Brennelemente (Brennstäbe mit Uran werden im Regelfall 4 bis 6 Jahre zur Produktion von Energie eingesetzt)

Mittelaktive Abfälle: In der Regel Material aus Kraftwerkshüllen, Schutzbauten oder Transportbehältern

Schwachaktive Abfälle: Beispielsweise Schutzkleidung des Personals oder von AKW-Besuchern

Sollten das AKW Mühleberg 47 Jahre und die anderen vier Atommeiler 60 Jahre in Betrieb bleiben, wird die Atomkraft in der Schweiz gemäss Schätzungen der Nagra 8500 Kubikmeter (entsprechend 4600 Tonnen) an hochradioaktivem Abfall hinterlassen. Zudem fallen 67‘500 Kubikmeter an schwach- oder mitteaktivem Müll an.

Für den Bau von zwei Endlagern in geologischen Tiefenschichten, in welchen diese nuklearen Abfälle dauerhaft gelagert werden sollen, sind Ausgaben von 20 Milliarden Franken vorgesehen. Seit 1980 wurde bereits eine Milliarde Franken für Forschungs- und Sondierungsarbeiten ausgegeben.

Diese Menge würde sich etwas reduzieren, wenn das Volk am kommenden 27. November der Volksinitiative der Grünen «Für einen geordneten Atomausstieg» zustimmt. Kern der Initiative ist eine Laufzeitbeschränkung von 45 Jahren für AKW. Ganz unabhängig von einer Annahme oder Ablehnung der Initiative ist jetzt schon klar, dass das Atomzeitalter ein belastendes Erbe hinterlassen wird.

Dieses betrifft nicht so sehr die Menge des Materials, als vielmehr die Sicherheit etlicher Folgegenerationen. Gemäss Schätzungen wird das abgebrannte Brennmaterial auf Grund der langen Halbwertszeiten zwischen 200‘000 und einer Million Jahre brauchen, bis die Radioaktivität auf einen natürlichen Wert abgeklungen ist.

Mehr als 65 Jahre nach Inbetriebnahme des ersten Atomkraftwerks der Welt bleibt die Bewirtschaftung der nuklearen Abfälle eine der grossen offenen Fragen. Bis heute verfügt noch kein Land über ein Endlager in geologischen Tiefenschichten, um den Atommüll dauerhaft zu lagern.

Tausende von Fässern mit schwach-, mittel oder hochradioaktiven Abfällen befinden sich momentan in Zwischenlagern auf der Erdoberfläche. Dort müssen sie aufbewahrt werden, bis sie in ein Endlager gebracht werden können. Ein Dutzend Länder, darunter die Schweiz, hat einen Teil dieser Nuklearabfälle sogar im Meer versorgt, bis diese Praxis 1993 international verboten wurde.

Risiken ausgelagert

Die Schweiz hat die Einlagerung und Wiederaufbereitung nuklearer Abfälle lange Zeit in andere Länder ausgelagert. Der Transport erfolgte in Stahlbehältern mit der Bahn und auf der Strasse, trotz der damit verbundenen Gefahren. Bis Ende der 1990er-Jahre wurde der Grossteil des radioaktiven Materials in die Wiederaufbereitungs-Analgen von Sellafield (Grossbritannien) und La Hague (Frankreich) gebracht. Das übrige Material verblieb in den Lagern der bestehenden fünf Atomkraftwerke.

Erst seit der Eröffnung des Zwischenlagers «Zwilag»Externer Link 2001 in Würenlingen (Kanton Aargau) verfügen die Betreiber der Schweizer Kernkraftwerke über ein zentrales Depot, das eine Behandlung und teilweise Dekontamination von nuklearen Abfällen im eigenen Land ermöglicht. Dieses Zentrum gilt als eines der modernsten seiner Art auf der Welt.

Es wird über Jahrzehnte radioaktive Rückstände schweizerischen Ursprungs verarbeiten; nicht nur hochradioaktives Material von verbrauchten Brennstäben, sondern auch schwach- und mittelaktives Material von allen fünf Schweizer Kernkraftwerken – die Hälfte dieses Materials wird beim Prozess der Stilllegung und des Rückbaus anfallen. Seit rund zehn Jahren werden zudem in Sellafield und La Hague deponierte Abfälle aus der Schweiz nach Würenlingen zurückgebracht. Das 2003 in Kraft getretene neue Atomgesetz hält fest, dass sich die Schweiz um die Beseitigung ihrer radioaktiven Abfälle selbst kümmern muss.

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Letzter Halt für Atommüll vor dem Endlager

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Bis radioaktive Abfälle endgültig im Untergrund gelagert werden können, müssen sie während 30 bis 40 Jahren in einem Zwischenlager bleiben, um genügend abzukühlen. Schwach- und mittelradioaktive Abfälle können in einer solchen Anlage darauf warten, bis ein Endlager in einer tiefen geologischen Formation in Betrieb genommen wird. In speziellen Anlagen wird der Atommüll zur Entsorgung in…

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Die konzentrierte Lagerung etlicher Tonnen radioaktiven Materials in diesem Depot stösst aber auch auf eine gewisse Skepsis. Denn Würenlingen befindet sich in einer dicht besiedelten Gegend; die Distanz zur Metropole Zürich beträgt nur 30 Kilometer.

«Der Bau des Zwischenlagers Zwilag an diesem Ort, direkt unter der Einflugschneise des Flughafens Zürich, war keine Glanzidee», meint Jürg Buri, Direktor der Schweizer EnergiestiftungExterner Link, die eine rasche Wende zu erneuerbaren Energiequellen befürwortet.

Ganz anders sieht es Zwilag-Sprecher Roland Keller: «Das Zwischenlager Würenlingen verfügt über erdbebensichere Gebäude, welche die nuklearen Abfälle auch vor Überschwemmungen und Flugzeugabstürzen schützen.» Die Sicherheit habe höchsten Stellenwert und unterstehe einer Sondergesetzgebung.

Der Standort Würenlingen wurde im Übrigen gewählt, weil er sich im Zentrum des Perimeters der fünf Schweizer Atomkraftwerke befindet. Dadurch können die Transportwege von radioaktivem Material so kurz wie möglich gehalten und folglich die Risiken verringert werden.

Standortsuche geht weiter

Der Atommüll der Schweizer Reaktoren sollte so lange in Würenlingen bleiben, bis zwei geologische Tiefenlager für die Endlagerung gefunden und in Betrieb genommen worden sind. Eines dieser Endlager – für hochradioaktive Abfälle – ist für 2060 vorgesehen; das Lager für schwach- und mittelaktive Abfälle für 2050.

Die Suche nach geeigneten Standorten wurde der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) anvertraut, die 1972 vom Bund und den Kernkraftwerksbetreibern gegründet wurde. Seit 1980 hat die Nagra eine Vielzahl von Sondierungen und Erkundungen in etlichen Regionen des Landes vorgenommen, doch es ist immer noch nicht klar, wo dereinst diese Tiefenlager verwirklicht werden können.

Im vergangen Jahr hatte die Nagra der Regierung zunächst vorschlagen, zwei Standortgebiete vertieft zu untersuchen und seismische Messungen durchzuführen. Es handelt sich um die Standorte Jura Ost und Zürich Nordost, unweit der deutschen Grenze. Inzwischen kam noch die nördliche Lägern dazu. Dort wurden dicke Opalinton-Schichten im Erdinneren gefunden. Das Projekt sieht vor, dass die Behälter mit einer ferngesteuerten Untergrundbahn bis in eine Tiefe von 600 Metern gebracht werden. Dort sollen sie in Stollen deponiert werden, die schliesslich mit Tongranulat verfüllt werden sollen (siehe Video).

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«Opalinton weist Eigenschaften auf, die für die Deponierung von radioaktiven Abfällen optimal sind. Insbesondere ist dieses Gestein fast hermetisch und somit gegen Wasserinfiltrationen immun, welche die grösste natürliche Gefahr für die nuklearen Abfallbehälter darstellen. Abgesehen vom Ton braucht es noch Spezialbauten, um zu verhindern, dass Wasser in die Stollen eindringt», hält Nagra-Kommunikationschefin Jutta Lang fest.

Kontrolle für mehr als 100 Jahre

Für Jürg Buri, den Geschäftsleiter der Schweizerischen Energie-Stiftung, besteht das Hauptrisiko aber vor allem im langen Zeitraum, über den der Atommüll geschützt werden muss: «Niemand kann heute garantieren, dass ein Lager mit hochaktiven Abfällen, ganz unabhängig vom Standort, für eine Million Jahre von Erdbeben, Eiszeiten oder anderen Natur- oder von Menschen verursachten Ereignissen verschont bleiben wird.»

Im Einklang mit dem Schweizer Atomgesetz sieht das Nagra-Projekt vor, dass das deponierte Material regelmässig kontrolliert wird und die Abfälle wieder geborgen werden können, und dies während einer Zeitspanne von 50, 100 oder mehr Jahren. Danach wird die Deponie definitiv versiegelt, in der Hoffnung, dass sie so lange sicher bleibt, bis die Radioaktivität von alleine abgeklungen ist.

Aber wird es so sein? Die Antwort auf diese Frage obliegt den kommenden Generationen. In den nächsten Jahrzehnten müssten die Schweizerinnen und Schweizer zuerst einmal entscheiden, wo die beiden Endlager verwirklicht werden sollen – eine schwierige Entscheidung steht an. Momentan ist kein Kanton und keine Gemeinde in der Schweiz bereit, den Sarg der nuklearen Vergangenheit des Landes unter dem eigenen Boden zu vergraben.

Sind die alten Atomkraftwerke eine zu grosse Hypothek, oder sollen sie so lange in Betrieb bleiben, wie sie als sicher gelten? Diskutieren Sie mit in den Kommentaren.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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