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Dick Marty: «Die Schweiz muss international die Stimme der Menschenwürde sein»

Dick Marty
Dick Marty 2011 während der Debatte im Europarat über seinen Bericht zu Gewalt und mutmasslichen illegalen Organhandel im Kosovo. Keystone / Christophe Karaba

"Verità irriverenti": In seinem neuen Buch – dessen Titel man mit "Unverblümte Wahrheiten" übersetzen könnte – schreibt der ehemalige Schweizer Politiker, Richter und Ermittler über persönliche Schicksalsschläge bis hin zu Reflexionen über die politischen und wirtschaftlichen Krisen und die Kriege, welche die Schweiz und die Welt erschütterten.

«Verità irriverenti. Riflessioni di un magistrato sotto scorta» lautet der volle Titel seines Buches – «Gedanken eines Magistraten unter Personenschutz».

Für den ehemaligen Tessiner Ermittler und Politiker ist sein Buch nicht so sehr eine Bestandsaufnahme, sondern «eine Reflexion, die ich zunächst für mich selbst machen wollte». Denn «in der Politik rennt man von einem Termin zum anderen und ich habe den Eindruck, dass es immer weniger Gelegenheit zum Nachdenken gibt,» sagt er im italienischsprachigen Schweizer Radio und Fernsehen RSI.

Externer Inhalt

«Ich habe den Drang verspürt, jetzt zu schreiben auch weil ich mich einer Herausforderung stellen muss: Einem inneren Feind, gegen den die Chancen, zu gewinnen, praktisch gleich Null sind.» Damit meint Dick Marty das Alter, wird er doch im nächsten Januar 79 Jahre alt.

Im Buch schildert der ehemalige Tessiner Ständerat seine politische Laufbahn, insbesondere die Monate, in denen er unter Personenschutz stand. Damals ermittelte er im Auftrag der Parlamentarischen Versammlung des Europarats im Kosovo wegen angeblichen Organhandels. Aufgrund seiner Ermittlungen gingen gegen Marty Anfeindungen und Drohungen ein.

Es sind Seiten voller persönlicher Gedanken eines Mannes, der sich von Mächten gejagt fühlt, die grösser sind als er selbst.

Wie kam es zu diesem Buch?

Dick Marty: Das Buch ist aus einer Reaktion auf ein sehr starkes emotionales Ereignis entstanden. Es war also meine Art, mit dieser Emotion umzugehen. Gleichzeitig war es eine Reflexion über das Funktionieren der Institutionen, den Verfall der Demokratien in der gesamten westlichen Welt und auch über unser Versagen, auf ein kolossales Ereignis zu reagieren.

Das gesamte internationale Gleichgewicht verschiebt sich aufgrund einer ganz offensichtlichen Schwächung des Westens. Aber ich fürchte, dass unsere Politik in der Schweiz einmal mehr sehr träge ist.

Inwiefern träge?

Wenn ich an die nachrichtenlosen Vermögen denke, an die Swissair, an das Bankgeheimnis, an die UBS, an die Credit Suisse, dann sehen wir, wie unsere Politik immer spät reagiert hat. Oder besser gesagt, sie hat reagiert, aber nicht antizipiert, obwohl es in all diesen Krisen Anzeichen gab.

Wie soll sich die Schweiz in einer Welt verhalten, die sich sehr schnell verändert?

Wenn die Schweiz international eine besondere Rolle spielen will, muss sie sich auf die humanitäre Politik konzentrieren, auf die Politik der Werte, der Menschenrechte, auf eine Aufwertung des Internationalen Roten Kreuzes, die dringend notwendig ist. Sie sollte jene Stimme in der Welt sein, die an die Werte der Menschenwürde erinnert.

Ist der Weg der Schweiz immer noch derjenige der Neutralität?

In der Ukraine-Krise gab es eine grosse Debatte über die Neutralität. Ob wir Waffen liefern sollten oder nicht. Es gab Druck von vielen Seiten. Stattdessen mussten wir uns bemühen zu vermitteln, einen Kompromiss zu finden, um die dortige Zivilbevölkerung zu schützen. Dasselbe passiert jetzt im Nahen Osten.

Das Buch ist auch aus einem schwierigen Moment in Ihrem Leben heraus entstanden. Sie sprechen von einer neuen Herausforderung, von der Sie glauben, dass Sie sie nicht bewältigen können. Ist dieses Buch so etwas wie eine Bilanz Ihres Lebens?

Bilanz nein, denn es gibt viele andere Dinge in meinem Leben, meine Familie, in der ich den grössten Erfolg sehe. Aber es ist eine Reflexion, die ich zuerst für mich selbst machen wollte. In der Politik rennt man von einem Termin zum anderen und ich habe den Eindruck, dass es immer weniger Gelegenheit zum Nachdenken gibt. Ich habe diese Dringlichkeit jetzt gespürt, weil ich mich einer neuen Herausforderung stellen muss. Es ist ein innerer Feind, gegen den die Chance, ihn zu besiegen, praktisch gleich Null sind.

Übertragung aus dem Italienischen: Renat Kuenzi

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