Die «Empörten» von Zürich wollen bleiben
Die Bewegung "Occupy Paradeplatz" erntet immer mehr Sympathie in Zürich. Seitdem die Stadtbehörde die Camper aufgefordert hat, den Platz zu räumen, haben sich weitere Personen niedergelassen. Und die Sympathie-Bekundungen nehmen zu.
Wenn der Lindenhof, ein Platz auf einem kleinen Hügel über der Limmat im Zentrum von Zürich, auch ein Grundstück des Monopoly-Spiels wäre, dann hätten die «Empörten» von Zürich ihre Bewegung vermutlich «Occupy Lindenhof» genannt. Auf diesem Platz haben rund 100 Personen im Alter zwischen 18 und 50 Jahren seit Mitte Oktober ihre Zelte aufgestellt.
Freitags und samstags steigen sie jeweils zum Paradeplatz hinunter, der wegen seiner Banken, Hotels, Galerien und Süsswarengeschäfte weltweit bekannt ist. Dort diskutieren sie mit Passanten und bringen ihre Botschaften unter die Leute.
Die Polizei ist bisher nicht eingeschritten. Ausser am 17. Oktober, als sie die Manifestanten aufforderte, den Ort zu verlassen, was diese auch taten.
Anfang November hatte die Stadt die Besetzer gebeten, eine Bewilligung einzuholen, um auf dem Lindenhof zu bleiben. Letzte Woche wurde das Gesuch abgelehnt und die Besetzer wurden aufgefordert, den Ort bis am Sonntag, 13. November zu verlassen.
«Diese Weisung hat uns gestärkt», sagt Laurent, ein Mitglied der Bewegung. «Wir haben neue Unterstützung erhalten, zwei neue Tipis und sogar ein modulierbares Küchenzelt mit kompletter Batterie». Eine Gruppe ist gerade daran, die Bestandteile zusammen zu bauen. Auf einem Hinweisschild, das am Rande des Camps eingeschlagen wurde, bedanken sich die Besetzer bei der Bevölkerung für die Unterstützung und die Geschenke.
«Wir haben Spenden im Wert von mehr als 10’000 Franken erhalten, ohne die Nahrungsmittel und andere Güter mitzuzählen», sagt Laurent. «Ein Anwohner hat uns Stromanschluss angeboten. Unser Ziel ist es, friedlich, ruhig und kreativ zu sein». Die Stadtbehörden anerkennen, dass sich die Manifestanten bisher anständig verhalten hätten, unterstreichen aber, dass die Besetzung eines öffentlichen Raums nicht länger geduldet werden könne.
Freizeit und Komfort geopfert
Bharat, ein etwa 40-jähriger Inder, taucht mit einem Brot in der Hand auf und fragt die Runde, wer ein Butterbrot haben möchte. Andere servieren heissen Tee. «Die Kälte ist kein Problem», sagt Peter, ein Basler, der in den USA gelebt und dort in einem Gartenbau-Unternehmen gearbeitet hat, und nun seine Zeit der Bewegung «Occupy Paradeplatz» widmet. «Im Zelt frieren wir nicht, auch nicht in der Nacht».
Bharat unterstützt die «Empörten», weil sie «das Gegenteil der Gier der Bankiers» verkörperten. «Manche Leute denken, es handle sich um Taugenichtse. Aber er habe viele Manifestanten mit einer höheren Bildung kennengelernt. «Sie opfern ihre Zeit und ihren Komfort, um den Missbrauch anzuprangern. Sie sind generös und altruistisch, während gewisse Kaderleute in den Banken Egoisten sind».
Bharat hat bis Ende Oktober als Informatiker im Auftragsverhältnis für die UBS gearbeitet. «Ich werde weiterhin für Banken tätig sein», sagt er, «es ist mein Bereich, und ich werde immer loyal sein und mein Bestes geben».
Er habe auch nichts gegen Boni oder andere Gratifikationen, wenn gut gearbeitet und die Bilanzsumme der Bank gesteigert werde. «Ich bin aber nicht einverstanden, dass die Banker belohnt werden, wenn sie scheitern, und der Staat das Geld der Steuerzahler ausgibt, um die Banken zu retten».
«Warum sind Sie nicht an der Arbeit?»
Wie Dutzende anderer Sympathisanten bringt Bharat jeden Tag Nahrungsmittel zum Lindenhof. Hat er auch ein schlechtes Gewissen, dass er sein Geld bei den Banken verdient hat? Die Frage sei schwierig und nicht in wenigen Worten zu beantworten.
Er habe schon früher gegen die Exzesse protestieren wollen, aber keine geeignete Plattform dafür gefunden. «Die Bewegung der Empörten hat nun einen Ort geschaffen, wo ich meine Wut und Missbilligung äussern kann», sagt er.
Zahlreiche Passanten machen Halt bei einer Tasse Tee, um sich in Diskussionen einzulassen mit den Besetzern. «Aber warum sind Sie nicht an der Arbeit?», fragt eine Frau mit weissen Haaren, die offensichtlich nicht die gleiche Wellenlänge hat wie die Manifestanten. «Wir sind das Spiegelbild der Gesellschaft», antwortet Laurant. «Es gibt Selbstständig Erwerbende unter uns, Studenten, aber auch Arbeitslose».
«Ich verteidige die Jugend»
Peter, ein 66-jähriger, ehemaliger Bankangestellter, zögert keine Sekunde, die Petition zu unterzeichnen, mit welcher die Stadt um eine Bewilligung fürs Campieren auf dem Lindenhof ersucht werden soll. «Es geht um unsere Jugend», sagt er. «Man kann die jungen Leute nicht immer kritisieren und ihnen gleichzeitig jede Perspektive verbauen».
Er fragt: «Was bringt uns die Globalisierung? Nichts, ausser dass sich einige Portemonnaies von selber füllen. Ich habe gegen den Vietnamkrieg protestiert, als ich jung war. Und jetzt verlange ich, dass etwas für die Jugend getan wird. Sie sollen auf dem Lindenhof bleiben dürfen: Im Mittelalter hat man die Stadt von dieser Stelle aus bewacht, um drohende Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Hier steht man über der Sache, und das ist ein gutes Omen». Sagt’s und verschwindet, unter dem Arm ein Essay über die italienische Geschichte.
Am Freitag, dem 11.11. um 11 Uhr 11, haben die Empörten weltweit zu einer grossen Versammlung aufgerufen. In Zürich hat eine Gruppe den Lindenhof verlassen, um sich auf dem Paradeplatz niederzulassen, vor der Credit Suisse. Dort findet man derzeit nicht – wie noch im Oktober – eine grosse Menschenmenge vor, aber viele Passanten lassen sich ansprechen.
Bettina, eine junge, lebhafte und redegewandten Frau aus dem Kreis der «Empörten», sucht das Gespräch mit einem jungen Paar. Auf dem Plakat in ihren Händen steht «Gratis Umarmung!». In der spontanen Diskussion ist dann die Rede von den Rollen der Mütter – Bettina hat zwei kleine Kinder – von der Bedeutung der Bildung, aber auch vom «Schaden», den die Banken verursacht hätten.
Etwas zögernd lässt sich das Päärchen schliesslich umarmen und spendet einen Batzen zur Unterstützung der Bewegung. Wenig später lässt sich auch ein Banker der Credit Suisse umarmen, allerdings ohne das Portemonnaie zu zücken. Den Damen und Herren in den grauen und schwarzen Anzügen, die in den Etablissements des Paradeplatzes arbeiten, scheint die Manifestation keineswegs gleichgültig zu sein.
«Wir sind bereit, langfristig zu bleiben», warnten die Besetzer vor einem geplanten Treffen mit Daniel Leupi, dem grünen Polizeivorsteher der Stadt Zürich. «Wir symbolisieren eine neue Idee, neue Wege, und wir wollen sie friedlich gehen. Wenn wir den Ort verlassen müssen, lassen wir uns anderswo nieder. Man kann einen Revolutionär stoppen, aber nicht eine Revolution».
«Wenn die Freisinnig-Demokratische Partei, FDP.Die Liberalen, irgendwo ein Camp aufstellen wollen, sollen sie es tun!», sagt Laurent, einer der Sprecher der Bewegung «Occupy Paradeplatz», auf die Frage, was er von der Forderung der beiden FDP-Abgeordneten der Stadt Zürich halte, ebenfalls ein Camp errichten zu dürfen.
Die FDP-Abgeordneten wollen mit dem Bewilligungsgesuch gegen die «übertriebene Toleranz» der Stadt Zürich gegenüber der «Occupy-Bewegung» protestieren, die sich seit dem 22. Oktober auf dem Lindenhof niedergelassen und sich «drei Wochen Zeit gelassen habe, um endlich um eine Bewilligung zu bitten».
Die Behörden haben die Bewilligung verweigert und den Aktivisten eine Frist bis 13. November eingeräumt, um den Platz zu verlassen.
In den letzten Wochen hat die Stadt Zürich viel Kritik zu hören bekommen wegen der passiven Haltung der Behörden gegenüber dem Zeltlager der Bewegung «Occupy Paradeplatz».
Einige Geschäftsinhaber gaben ihrem Ärger Ausdruck, dass es ihnen nicht einmal erlaubt sei, einen Stuhl oder ein Schild auf die Strasse zu stellen, 50 cm jenseits der ihnen zustehenden Zone, und dass sie dafür bezahlen müssten.
In einem Interview mit der NZZ sagte der grüne Polizeivorsteher Daniel Leupi, dass kommerzielle Aktivitäten auf dem Boden der Stadt der Bewilligung und der Taxpflicht unterstünden.
Politische Aktivitäten hingegen seien nicht taxpflichtig und dürften an gewissen Orten ohne Bewilligung ausgeübt werden. Die Toleranz der Stadt sei deshalb nicht übertrieben.
Dass die Bewilligung für das Zeltlager auf dem Lindenhof nicht gegeben wurde, haben die Behörden damit begründet, dass «politische Aktionen auf dem Boden der Stadt zwischen 22 und 7 Uhr morgen nicht durchgeführt werden dürfen.»
Ausserdem seien solche Bewilligungen während höchstens 30 Tagen gültig. Nach Ablauf dieser Frist müssten die Antragsteller eine Baubewilligung beantragen.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch