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«Die Hilfe für Syrien muss in gute Hände gelangen»

Ein Lager für syrische Flüchtlinge in der Nähe der türkischen Grenze. Es wird von syrischen Rebellen kontrolliert. AFP

Im Winter wird die Lage für die syrische Bevölkerung, die schon vorher unter Mangel an Nahrung, Medizin, Strom und Heizöl zu leiden hatte, noch schlimmer. Tawfik Chamaa, Genfer Arzt mit Wurzeln in Aleppo, spricht von einer humanitären Katastrophe.

Das Observatorium für Menschenrechte, eine in London beheimatete NGO, beziffert die Zahl der Gewaltopfer in Syrien auf 36’000 seit März 2011. In dieser Zahl sind die Tausenden von Verschwundenen, für die das Regime von Bashar al-Assad verantwortlich gemacht wird, sowie die durch Rebellengruppen Hingerichteten noch nicht mitgezählt.

Der vor 30 Jahren aus Syrien ins Exil geflüchtete Tawfik Chamaa arbeitet als Arzt in Genf, von wo aus er sich auch für die syrische Revolution engagiert, und zwar im Rahmen der «Union syrischer Organisationen für medizinische Hilfe» (UOSSM). Aus Anlass des nationalen Sammeltags der Glückskette in der Schweiz zugunsten Syriens (Vgl. rechte Spalte) hat swissinfo.ch mit ihm über die Lage in Syrien gesprochen.

swissinfo.ch: Was erwarten Sie von dieser Sammlung in der Schweiz?

Tawfik Chamaa: Jede Anstrengung ist lobenswert, vor allem jene der Zivilgesellschaft. Das einzige, was ich verlange, ist, dass diese Hilfe ihr Ziel erreicht. Viele Hilfsgelder zugunsten der syrischen Bevölkerung kommen nicht bei dieser an. Man sollte nicht das syrische Rote Kreuz unterstützen, weil es vom Regime kontrolliert wird.

swissinfo.ch: Weshalb haben Sie Vorbehalte gegenüber dem syrischen Roten Kreuz?

T.Ch.: Bis zu Beginn dieses Jahres war das syrische Rote Kreuz eine absolut achtenswerte Organisation, die sich für alle Bedürftigen einsetzte. Zahlreiche Nothelfer sind bei ihren Einsätzen umgekommen.  Aber inzwischen hat sich das Regime diese Organisation angeeignet und sich der anständigen Mitwirkenden entledigt. Der Staat macht mit den Spenden was er will.

swissinfo.ch: Wie steht es heute um die Versorgungslage in Syrien?

T. Ch.: Die Lage ist katastrophal. Viele Ärzte und Apotheker haben das Land verlassen oder verstecken sich, weil sie befürchten müssen, als Anhänger der Revolution gehalten zu werden. Alle Personen, die ausserhalb der vom Regime überwachten Spitäler Pflegeleistungen erbringen, werden als Terroristen betrachtet, verhaftet oder sogar exekutiert.

Beim UOSSM haben wir 650 Ärzte und Nothelfer gezählt, darunter auch solche vom Roten Kreuz, die sich in der Umgebung von Damaskus und Aleppo aufhielten und verhaftet wurden, weil sie auch in den von der Regierungsarmee beschossenen Zonen Hilfe leisteten.

Die 57 Arzneimittel-Hersteller in dieser Region sind ausser Betrieb. Die Bevölkerung ist den Bombardierungen ausgesetzt, leidet unter Mangel an Nahrung, medizinischer Versorgung, Strom  und Heizöl.

Die rund 5000 Dialyse-Patienten in Syrien zum Beispiel haben keinen Zugang mehr zu ihren wöchentlichen Behandlungen. Chronisch Kranke sind heute wegen fehlender Behandlungen zum Tod verurteilt.

swissinfo.ch: Verfügen Sie über genauere Angaben zu diesem Problem?

T.Ch.: Zu den 5000 Dialyse-Patienten kommen rund 70’000 Krebskranke dazu, die auch nicht mehr behandelt werden und deshalb auch sterben werden. Auch Diabetes-, Herz-Kreislauf- und Asthma-Patienten erhalten ihre Medikamente nicht mehr. Den meisten fehlt das Geld, um sich auf dem Schwarzmarkt einzudecken.

swissinfo.ch: Trotzdem handelt die Internationale Gemeinschaft nicht.

T.Ch.: Durch ihre Untätigkeit macht sich die Internationale Gemeinschaft zur Komplizin der Verbrechen in Syrien. Jeden Tag findet sie einen Vorwand, um ihre Untätigkeit zu rechtfertigen, obwohl sie weiss, dass es sich nicht um einen Bürgerkrieg zwischen gleichen Gruppierungen handelt, sondern um einen Krieg zwischen der Regierungsarmee gegen ihre Bevölkerung.

Diese Lähmung lässt sich ohne Zweifel durch divergierende Interessen der verschiedenen Staaten in der Region erklären. Aber diese Staaten scheinen sich einig zu sein, das Regime an der Macht zu halten.

Die 16 Millionen Syrer auf der ganzen Welt unterstützen weiterhin die Revolution.

swissinfo.ch: Die Schweizer Regierung hat entschieden, ein Feldspital in Syrien zu finanzieren, das durch die Schweizer Sektion Ihrer Organisation, UOSSM, errichtet wird. Wie weit ist das Projekt gediehen?

T.Ch.: Die Pflegestation, die sich in einer unter ständigem Beschuss stehenden Zone befindet, ist in Betrieb. Wir danken der Schweiz sehr für diesen ersten Schritt. Und wir erwarten die nächsten Schritte. Wir hoffen, dass die Unterstützung der Schweiz ihrem Ruf in Bezug auf die humanitäre Hilfe gerecht wird.

Wie auch immer, unsere Organisation konzentriert sich auf die Errichtung von Feldspitälern, als Antwort auf die zunehmenden Bombardierungen der Armee, bei denen täglich zwischen 100 und 150 Menschen umkommen und drei bis vier Mal so viele verletzt werden.

Bis heute ist es uns gelungen, rund 30 heimliche Feldspitäler zu errichten. Und wir ersetzen sie sofort, wenn sie vom Regime zerstört werden.

Die humanitäre Lage in Syrien verschlimmere sich, obwohl der Hilfseinsatz immer mehr verstärkt werde, sagte Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) am 8. November in Genf.

Es gebe «eine Menge weisser Flecken» in Syrien, die das IKRK nicht mit Hilfsgütern versorgen könne.

Trotz Ausweitung der Hilfe und insgesamt besserem Zugang zu den Opfern, «können wir nichts gegen die Verschlechterung der Situation tun». «Es besteht kein Zweifel, dass sich die Krise jeden Tag verschärft. Dieser Trend dauert seit dem Sommer an.»

Nach «schwierigen Verhandlungen» sei es vergangenes Wochenende gelungen, in zwei Quartieren der umkämpften Stadt Homs Hilfsgüter zu verteilen. Zudem habe das IKRK auch die Stadt Idlib erreicht. Über die Stadt hinaus sei das IKRK aber kaum gekommen.

Angesprochen auf die Kritik, dass beim syrischen Roten Halbmond Hilfsmittel verschwinden, sagte Maurer, dass diese Organisation der von den syrischen Behörden bestimmte, obligatorische Gesprächspartner sei. «Man kann nichts machen, wenn man nicht den Weg über den Roten Halbmond einhält.»

Die Situation vor Ort sei komplex: «Der Rote Halbmond stünde in Damaskus der Regierung vielleicht näher, andernorts sei er näher bei den Bedürfnissen der Bevölkerung.»

Das IKRK könne unabhängiger als noch vor einigen Monaten in Syrien agieren, doch es sei dabei auf den syrischen Roten Halbmond angewiesen.

Die Beziehungen basieren auf gegenseitigem Vertrauen. Allerdings könne er nicht versichern, dass die Handlungen des syrischen Roten Halbmondes immer neutral seien, sagte Maurer.

Aber der Dialog hat uns in den letzten zwei Jahren geholfen, dass besser verstanden wird, was neutrale Arbeit in der humanitären Tätigkeit bedeutet.

Es ist eine tägliche Herausforderung. In einigen Orten können wir selbständig handeln, ohne Begleitung des Roten Halbmonds. Aber perfekt ist nichts.»

Der Zugang des Roten Kreuzes zu Gefangenen in Syrien sei nicht verbessert worden. Bislang konnte das IKRK ein einziges Mal ein Gefängnis besuchen. Es verlangt bis Ende Jahr Zugang zu 25 Gefängnissen.

(Quelle: sda)

UOSSM, Union syrischer Organisationen für medizinische Hilfe, ist eine humanitäre, unabhängige Nichtregierungs-Organisation, die in der Folge des Syrienkonflikts ins Leben gerufen wurde.

Sie setzt sich für Pflegeleistungen und Nothilfe zugunsten der bedürftigen und isolierten Bevölkerung im Land ein.

Die im Januar 2012 in Paris gegründete Organisation umfasst rund 15 medizinische Hilfs-Organisationen und hunderte Ärzte in Syrien oder syrische Ärzte in den USA, Kanada, Europa und verschiedenen arabischen Ländern.

UOSSM hat ihren Sitz in Paris und weitere Büros in der Türkei, im Libanon und in Jordanien.

(Quelle: UOSSM) 

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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