Die Niederlanden vor den Wahlen: Wenn Linke und Rechte (wieder) Volksabstimmungen wollen
Fünf Jahre nach seiner Abschaffung will das Parlament der Niederlanden wieder ein Referendumsgesetz einführen. Ob es wirklich kommt, zeigt sich erst nach den Wahlen. Warum Referendum nicht gleich Referendum ist, erklärt die Schweizer Politikwissenschaftlerin Alice el-Wakil im Interview.
SWI swissinfo.ch: 2015 haben die Niederlanden ein Gesetz für Volksabstimmungen eingeführt und es nur drei Jahre später wieder abgeschafft. Was ist da passiert?
Alice el-Wakil: Für mich kam es als Überraschung, dass die Niederlanden das konsultative Referendum nach nur einer Abstimmung, kurz vor Durchführung der zweiten wieder abschafften. Ich habe es, wie viele, so verstanden, dass der Grund das EU-Ukraine-Referendum war.
Was ist da passiert?
Das EU-Ukraine-Referendum war das erste konsultative Referendum – und das erste Mal ist selten das beste. Zwar gab es öffentliches Geld für die Ja- und die Nein-Seite, aber es fehlte an Erfahrung, wie man eine solche Kampagne für eine Volksabstimmung organisiert. Hinterher zeigten diverse Studien, dass die Ja-Kampagne wenig sichtbar war.
Es gab keine gute Debatte. Manchen Parteien war nicht bewusst, dass sie auch in der direkten Demokratie eine Rolle innehaben. Da spielt eben das Verständnis mit rein, dass direkte Demokratie etwas grundsätzlich Anderes ist als repräsentative Demokratie.
Am 22. November sind Wahlen in der Niederlanden. Danach wird das neue Parlament den finalen Entscheid fällen, ob das Land nun doch wieder Volksabstimmungen einführen will. Was für ein Referendum wird momentan in den Niederlanden diskutiert?
Es ist ein sogenanntes Korrektivreferendum und meint dasselbe, was wir in der Schweiz als fakultatives Referendum kennen: Nachdem das Parlament ein Gesetz beschlossen hat, kann mit einer Unterschriftensammlung eine Abstimmung herbeigeführt werden.
Dass ein Referendumsgesetz so kurz nach der Abschaffung wieder eingeführt werden soll, ist überraschend, aber die Debatte dazu hat nie gestoppt.
Die grössere Idee, dass sich die repräsentative Demokratie in den Niederlanden ändern muss, ist konstant da. Bereits 1986 empfahl eine beratende Regierungskommission die Annahme eines verbindlichen, korrigierenden Referendums.
Das konsultative Referendum, das man von 2015 bis 2018 hatte, war dann eine Probe. Aus der man auch Lehren zieht: Ein Referendum über einen internationalen Vertrag wie beim EU-Ukraine-Referendum kann sich nicht wiederholen. Beim neuen Vorhaben sind Internationale Abkommen, Steuern, die königliche Familie und Grundrechte ausgenommen. Zudem soll das jetzt diskutierte Referendum bindend sein. Im niederländischen Parlament ist kürzlich diskutiert worden, ob es eher wie ein «Feueralarm» oder eine «Notbremse» wirken sollte.
Was ist damit genau gemeint, Feueralarm oder Notbremse?
Die Idee einer Notbremse vertreten in den Niederlanden jene, die nur wenige Referenden wollen. Ihre Position ist: Das Referendum kommt nur in Ausnahmefällen zum Zug, wenn das Parlament eine fatal falsche Entscheidung getroffen hat.
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Im Bild der Notbremse ist also das Referendum eine lebensrettende Massnahme im letzten Moment. Und den Feueralarm kann man auch mal aus Versehen drücken.
Genau. Hinter dem Feueralarm steht die Idee, dass ein Parlamentsentscheid nicht unbedingt falsch sein muss, wenn man eine Volksabstimmung durchführt. Es reicht, dass eine relevante Gruppe denkt, dies sei die falsche Entscheidung.
Das Demokratie-Ideal dahinter ist, dass durch die Abstimmungskampagne in der ganzen Gesellschaft eine vertiefte Auseinandersetzung stattfindet. Die Abstimmung führt dann die Entscheidung herbei, ob das Beschlossene der Mehrheit der Abstimmenden entspricht.
Die unterlegene Seite konnte aber trotzdem ihre Argumente gegen den Vorschlag ausdrücken und damit einen Prozess auslösen. Im Feueralarm-Konzept ist das Referendum stärker Normalität, eigentlich als Teil des Repräsentationssystems der Demokratie.
In der Schweiz wird es manchmal losgelöst vom Inhalt als positiv dargestellt, wenn die Regierung eine Volksabstimmung gewinnt. Ist es nicht schwierig, wenn die Regierungsposition per se als positiv gilt?
Die Idee meiner Dissertation, die unter anderem auf Beispiele aus Grossbritannien, den Niederlanden und der Schweiz zur Illustration heranzieht, war zu zeigen, warum das Referendum als Instrument im Interesse einer ganzen Bevölkerung sein kann. Die Demokratie-Theorie ist Referenden gegenüber sehr skeptisch eingestellt, weil Referenden eben als etwas fundamental Anderes dargestellt werden. Doch das ist nicht so.
Es ist unwahrscheinlich, dass von uns gewählte Politiker:innen – geschweige denn ein ganzes Parlament – uns in jeder Situation genau so vertritt, wie wir es wollen. Selbst, wenn wir generell mit deren Arbeit zufrieden sind.
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Die Schweizer:innen haben zum dritten Mal über das Covid-Zertifikat entschieden. Was bringt das?
Darum tendiere ich selbst auch eher zur Feueralarm-Funktion von Referenden: Eine Gruppe hat starke Interessen oder Gefühle zu bestimmten Themen. Wenn das Parlament eine Entscheidung trifft, die einer Gruppe missfällt, soll diese meiner Meinung nach eine Alarmwelle auslösen können.
Dann drückt eine kleine Minderheit aus, dass sie sich nicht repräsentiert fühlt – und das Referendum ermöglicht zu überprüfen, ob sich die Mehrheit in dieser Frage repräsentiert fühlt.
Die Socialistische Partij, SP, in den Niederlanden hat den neuen Vorschlag für ein Referendum ins Parlament gebracht. Sie schreibt am Anfang ihres Wahlprogramms, man wolle eine radikale Demokratisierung und «der Bürger soll das letzte Wort» haben. Haben Bürger:innen denn das letzte Wort, wenn es Referenden gibt?
Mit einem Referendum haben Bürger:innen ein Recht mitzuentscheiden. In einem Artikel schlage ich vor, dass Abstimmende als Co-Legislator:innen verstanden sollten: Abstimmungen sind sehr wichtige Entscheidungsmomente, aber nicht das Ende des Prozesses.
In der Schweiz sieht man das zum Beispiel daran, dass immer wieder über die Altersvorsorge abgestimmt wird. Und Parlamentarier:innen handeln in der Schweiz, wo das Referendum lange Tradition hat, nicht losgelöst von Abstimmungen: Sie bedenken bereits beim Verhandeln eines Gesetzes, wie sie sich positionieren, um ein Referendum auszulösen oder dieses zu verhindern. Die Bevölkerung kann mitentscheiden, aber sie ist nicht die einzige Gesetzgeberin.
Der Prozess ist komplizierter. Die Leute, die gewählt worden sind, setzen die Agenda im Austausch mit zivilgesellschaftlichen Gruppen. Auch jene, die ein Referendum lancieren, sind nicht «die» Bevölkerung, sondern meistens Gruppen, die schon politisch involviert sind und Ressourcen haben, wie Parteien oder Verbände. Dasselbe gilt während der Abstimmungskampagne. In der Abstimmung hat eine Mehrheit der Bürger:innen ein entscheidendes Wort – und die politische Auseinandersetzung geht weiter.
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Wozu dient das Parlament in der direkten Demokratie?
Gemäss einer kürzlichenBefragungExterner Link in den Niederlanden sind 99% der Anhänger:innen des zuletzt geschrumpften rechtspopulistischen Forum voor Democratie, FvD, für das Referendum, genauso wie andere rechtspopulistische Kreise. Zugleich unterstützen es auch Linke wie eben die Socialistische Partij, SP. Wie geht das zusammen?
Dass es schräge Bündnisse zwischen Links und Rechts gibt, ist interessant. Daran sehe ich auch Gutes, denn es geht um Verfassungsfragen, die die Spielregeln für alle schaffen. Da ist eine breite Zustimmung wichtig.
Sprechen diese rechten und linken Gruppen überhaupt über dasselbe, wenn sie mehr Demokratie fordern?
Mein Eindruck ist, sie wollen den Prozess aus jeweils anderen Gründen. 2018 machte der FvD die Aussage, dass sie mehr Referenden haben wollen, um den professionellen Politiker:innen Macht wegzunehmen. Da ging es explizit darum, die repräsentative Demokratie zu unterlaufen. Bei anderen Interpretationen geht es weniger um «Bevölkerung gegen die Elite», sondern um die Frage, wie man die professionelle Politik und die Bevölkerung zusammenbringen kann.
Repräsentative Demokratie meint auch Bürger:innenpartizipation durch öffentliche Debatten über Inhalte und je nachdem Mitwirkungsprozesse.
Es stehen also verschiedene Konzepte von Demokratie dahinter.
Populistische Politik bedeutet «Die Elite ist schlecht, die Bevölkerung ist gut». Darum fordern populistische Parteien das Referendum auch als Mittel, die Elite zurückzuweisen und gleichzeitig auszudrücken, dass sie das Volk repräsentieren. Das Problem an dieser Ansicht ist, dass es jenen, die sie vertreten, oft gar nicht so sehr um die Volksabstimmung geht.
Vielerorts in Lateinamerika, wo sie direkte Demokratie forderten, haben sie das Referendum nach der Wahl nicht eingeführt. Doch es schafft einen Wahlkampf-Effekt, wenn jemand sagt «Die, die uns repräsentieren sollten, tun es nicht. Darum sind wir die wahren Repräsentanten des Volkes». Populist:innen ist oft wichtiger, sich in diese Position zu rücken – als die Ergebnisse von Referenden.
Was müssen die Niederlanden für den neuen Referendumsprozess bedenken, falls das neue Parlament wieder Referenden einführt?
Da das neue Referendumsrecht bindende Entscheidungen schafft, sind die Unsicherheiten über die Effekte der Abstimmungen eliminiert, was gut ist.
Beim aktuellen Vorschlag in den Niederlanden ist spannend, dass er weitere Details nicht regelt: Wie viele Unterschriften erforderlich sein werden und ob es eine Mindestbeteiligung geben wird, damit ein Beschluss gültig ist, ist derzeit noch unklar. Diese Anforderungen sollen in einem normalen Gesetz geregelt werden, sobald die Verfassungsänderung verabschiedet ist.
Dahinter steht der Gedanke, dass es einfacher sein wird, diese Regeln in Zukunft anzupassen, ohne die Verfassung ändern zu müssen. Es wurde gesagt, dass dies auch in gewisser Weise strategisch ist, weil frühere Versuche, Korrektivreferendumsgesetze einzuführen, an Streitigkeiten über das institutionelle Design scheiterten.
Dabei sind aber genau die Detailfragen entscheidend. Der Teufel liegt in den DetailsExterner Link, wie das von den Politikwissenschaftler:innen Fernando Tuesta Soldevilla und Yanina Welp herausgegebene Buch über Referenden in Lateinamerika heisst.
Das niederländische Parteienspektrum ist sehr zersplittert und regelmässigen Veränderungen unterworfen.
Der abtretende Mark Rutte ist der längst amtierende Ministerpräsident in der Geschichte der Niederlanden. In den aktuellsten UmfragenExterner Link schneidet seine Partei, die konservative VVD, nur am Zweitbesten ab.
Hoffnungsträger dieser Wahlen ist der frühere Christdemokrat Pieter Omtzigt. Dessen neuer Anti-Establishment-Partei würde gemäss Umfragen aktuell knapp jede fünfte Person die Stimme geben.
Auf dem dritten Platz kommt aktuell GroenLinks-PvdA, das Bündnis zweier linker Parteien. Mit einigem Abstand dahinter folgt die rechtspopulistische PVV.
Die bäuerlich-populistische BBB, die im Frühjahr die Provinzwahlen gewonnen hat, hat ihr Hoch hinter sich. Sie kommt aktuell auf 6,5%. Hinter ihr folgen weitere sieben Parteien mit Umfragewerten zwischen 2,5% und 5%, darunter die SP und die FvD.
Editiert von David Eugster.
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