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«Die Schweiz ist bei den LGBTIQ-Rechten ziemlich das Schlusslicht in Westeuropa»

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Keystone / Michael Buholzer

Die Rechte von LGBTIQ-Personen in der Schweiz haben sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Noch immer gebe es aber viele Lücken, sagt Nadja Herz, Co-Präsidentin der Lesbenorganisation Schweiz. Auch bereitet ihr die zunehmende Hetze gegen LGBTIQ-Menschen Sorgen.

Seit 2020 hat die Schweiz die Anti-Rassismus-Strafnorm auf Homosexuelle ausgeweitet, die Ehe für alle eingeführt und die administrative Änderung des Geschlechts vereinfacht. Kurzum: Die Rechte von LGBTIQ-Personen haben zuletzt grosse Fortschritte gemacht.

Aber wo steht die Schweiz damit im internationalen Vergleich, und wie sehen das die Betroffenen?

Laut Nadja Herz, Rechtsanwältin und Co-Präsidentin der Lesbenorganisation SchweizExterner Link (LOS) steht die Schweiz trotzdem nicht besonders gut da, und es gibt noch grossen Handlungsbedarf. Wir haben sie online zum Gespräch getroffen.

SWI swissinfo.ch: Die Rechte der LGBTIQ-Menschen wurden in der Schweiz in den letzten Jahren signifikant ausgebaut – sehen Sie das auch so?

Nadja Herz: Ich würde nicht unbedingt sagen, dass nur in den letzten Jahren viel passiert ist, sondern dass sich die Situation über drei Jahrzehnte in langsamen Schritten verbessert hat. Die Petition «Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche PaareExterner Link» wurde ja bereits vor 30 Jahren eingereicht.

Dass die «Ehe für alle» in der Volksabstimmung vom 26. September 2021 angenommen wurde, ist der vorläufige Höhepunkt dieses jahrzehntelangen Prozesses.

Aber wir sind – auch im Familienrecht – noch längst nicht am Ende. Die Kinderrechte sind beispielsweise noch nicht umfassend eingeräumt. Und es gibt noch viele andere offene Bereiche.

Nadja Herz
Nadja Herz. Nadja Herz

Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf?

Bei gemeinsamen Kindern von gleichgeschlechtlichen Paaren ist in vielen Fällen nach wie vor eine Stiefkindadoption nötig. Konkret: bei ausländischen Samenbanken, privaten Samenspenden und bei nicht verheirateten Paaren.

Dringend ist ein Verbot von Konversionstherapien. Es gibt für non-binäre Personen keine Möglichkeit, sich für ein drittes Geschlecht zu entscheiden oder das Geschlecht im Umgang mit dem Staat offen zu lassen, wie das in vielen Ländern möglich ist.

Der Schutz für intergeschlechtliche Kinder ist ausserdem absolut ungenügend. Und im Asylrecht wäre ein besserer Schutz von Menschen wichtig, die wegen ihrer Geschlechtsidentität oder ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden.

Der Bund will das binäre Geschlechtermodel beibehalten, weil das Einführen des dritten Geschlechts viele Anpassungen namentlich in Bereich der Militärdienstpflicht erfordern. Wie sollten Ihrer Meinung nach non-binäre Menschen bezüglich der Militärdienstpflicht betrachtet werden?

Dass es in gewissen Bereichen – wie beispielsweise bei der Militärdienstpflicht – noch rechtliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt, darf nicht als Vorwand dienen, um eine Lösung für non binäre Personen zu verunmöglichen.

Der Bundesrat stellt sich auch in anderen Bereichen (z.B. beim Verbot von Konversionstherapien oder bei einer Modernisierung des Familienrechts) dem gesellschaftlichen Wandel entgegen, indem er rechtliche Probleme vorschiebt. Wir erwarten vom Bundesrat jedoch, dass er Lösungen dafür findet und nicht dringende gesellschaftspolitische Neuerungen verhindert.

Aber was ist die konkrete Forderung? Sollen non-binäre Menschen in der Schweiz von der Militärpflicht ausgenommen werden?

Es braucht für non binäre Personen eine allgemeine Lösung für alle Bereiche, in denen es noch rechtliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt.

Meine Forderung ist, dass die Politik vorwärts machen soll und für dieses Thema eine gute grundsätzliche Lösung findet.

Gemäss dem «LGBT-Gleichstellungsindex 2023» von ILGA Europe liegt die Schweiz mit einem Wert von 47% im Mittelfeld, weit hinter Spanien (74%), Frankreich (63%) und Portugal (62%).

Die Schweiz ist bei den LGBT+-Rechten sogar ziemlich das Schlusslicht in Westeuropa.

Die faktische Situation, insbesondere die staatlichen Strukturen und die finanzielle Unterstützung, sind in diesem Index noch nicht einmal berücksichtigt.

In der Schweiz fehlt es, im Unterschied zu den EU-Ländern, weitgehend an staatlicher Unterstützung für LGBTIQ-Beratungsangebote und -politik. LGBTIQ-Organisationen und -Beratungsstellen erhalten vom Bund praktisch kein Geld für ihre Arbeit.

Das macht es viel schwieriger, einen guten Schutz und gute Strukturen zu haben für die betroffenen Menschen.

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Der Bericht empfiehlt der Schweiz, «Konversionstherapien» zu verbieten.

Ja, in der Schweiz gibt es noch immer kein Verbot von Konversionstherapien. Diese werden in Einzelfällen sogar noch von der Krankenkasse finanziert.

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Die Politik hat allerdings erste Massnahmen ergriffen, auch der Nationalrat will die Therapien verbieten respektive unter Strafe stellen.

Mehrere Kantonsregierungen, darunter die von Bern, Genf und Zürich, haben sich bereits für ein nationales Verbot im Strafrecht ausgesprochen.

Die Kantone Luzern und Basel haben sogar eine entsprechende Standesinitiative beschlossen. Es ist sehr wichtig, dass endlich auf Bundesebene ein Verbot kommt.

ILGA Europe weist ebenfalls darauf hin, dass in der Schweiz das Recht von intersexuellen Kindern auf körperliche Unversehrtheit nicht gewährt ist.

Wir haben tatsächlich noch keinen expliziten Schutz, dass Eingriffe zur Festlegung eines Geschlechts, die medizinisch nicht nötig sind, bei Kindern oder Babys nicht vorgenommen werden. Es ist international anerkannt, dass man solche Eingriffe nicht machen soll.

Generell ist die Frage umstritten, wer die Entscheidungsgewalt über den Körper von Minderjährigen haben soll, die nicht den traditionellen binären Vorstellungen von Geschlecht entsprechen oder entsprechen wollen. Beispielsweise hat Schweden Hormontherapien eingeschränkt. Wofür plädieren Sie?

Ich bedaure, dass das Thema derart stark ideologisiert ist. Sicherlich ist es wichtig, dass man bei Minderjährigen die Situation sehr sorgfältig prüft. Der Zugang sollte aber bei einer diagnostizierten Geschlechtsdysphorie [Differenz zwischen empfundenem und angeborenem Geschlecht, Anm. d. R.] nicht übermässig erschwert werden.

Der ILGA-Bericht stellt auch fest, dass die Rechte von LGBTIQ-Flüchtlingen nicht angemessen geschützt sind. In der Praxis wird Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung aber als Asylgrund anerkannt.

Die Anforderungen sind aber oft sehr hoch. Eine explizite Ausdehnung des Flüchtlingsbegriffs auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Asylgrund wäre wichtig.

Was sollten der Bundesrat und das Parlament Ihrer Meinung nach tun, um die Rechte von queeren Menschen zu verbessern?

Es geht nicht nur um rechtliche Verbesserungen. Es braucht auch dringend mehr finanzielle Unterstützung des Bundes für die vielfältigen und wichtigen Aufgaben, die LGBTIQ-Organisationen wahrnehmen.

Statistiken sind auch sehr wichtig, um zu wissen, wie viele Personen beispielsweise von Hate-Crimes betroffen sind oder im Gesundheitsbereich diskriminiert werden.

Ich finde, die Schweiz ist beim Schutz für LGBTIQ-Personen nicht besonders gut aufgestellt. Jugendliche haben Probleme beim Coming-out oder sind sogar suizidal, also braucht es Beratungsstellen. LGBT+-Personen sind besonders oft von Hass und Gewalt betroffen, also braucht es besondere Schutzmassnahmen.

Rechtsgleichheit ist extrem wichtig, aber reicht für sich allein nicht aus, was man auch bei den Frauenrechten gut sehen kann. Man ändert nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, indem man nur die Rechte verändert, sondern man muss zusätzliche Massnahmen treffen.

Auch Aufklärung in der Schule ist wichtig, um die Situation von LGBTIQ-Personen in der Gesellschaft zu verbessern.

Das ist sehr wichtig, weil in der Schule sehr viel passiert und die Kinder und Jugendlichen sehr stark leiden, wenn sie diskriminiert werden. Kinder können sich noch nicht gut wehren. Die Suizidrate ist viel höher bei LGBTIQ-Kindern und -Jugendlichen.

Die Stadt Zürich hat eine sehr aktive Gleichstellungspolitik, und das ist auch in den Schulen und Institutionen spürbar. Die Situation ist aber sehr unterschiedlich je nach Kanton oder Stadt.

Ebenfalls nötig sind Sensibilisierung und Weiterbildungen im Gesundheitswesen und bei der Polizei.

In den USA gibt es einen grossen Rückschritt bezüglich der LGBTIQ-Menschenrechte. Könnte das auch in die Schweiz passieren?

Es ist ein Kulturkampf zwischen zwei politischen Richtungen. Und der tobt nicht nur in den USA, sondern auch in europäischen Ländern.

Der Hass gegen LGBT+-Personen und -Anliegen wird von rechtspopulistischen Parteien gezielt geschürt und zu politischen Zwecken missbraucht. Es ist leider auch in der Schweiz spürbar, dass sich das Klima verschärft hat. Ich sehe das mit sehr grosser Besorgnis.

Meine Hoffnung ist, dass es in der Schweiz nicht so einfach ist, Erreichtes wieder rückgängig zu machen, weil Entscheide sehr breit abgestützt sind. Wir haben ein Vielparteiensystem, sodass nicht eine Partei alles umkrempeln kann, wenn sie an die Macht kommt.

In der Schweiz ist die direkte Demokratie fest verankert. LGBTIQ-Rechte wie die Ehe für alle wurden ebenfalls durch Volksabstimmungen beschlossen. Liegt hier das Potenzial, um diese Rechte in Zukunft besser zu fördern?

Direkte Demokratie macht zwar die Prozesse sehr langsam, aber erworbene Rechte sind demokratisch besser legitimiert und besser verankert.

Es ist ja immer schwierig, eine Mehrheit zu überzeugen, dass sie sich für Minderheitenrechte engagieren soll. Aber das ist natürlich auch schön in der direkten Demokratie, wenn man dann Erfolg mit solchen Vorlagen hat und die Mehrheit zustimmt.

Auf die Ehe für alle mussten wir lange warten, aber immerhin wurde sie in sämtlichen Kantonen vom Volk sehr deutlich angenommen.

Nadja Herz, geboren 1964, ist als selbständige Rechtsanwältin und Fachanwältin im Bau- und Immobilienrecht tätig.

Sie ist zudem auf die LGBT+-Rechte spezialisiert. Seit 2019 ist sie Co-Präsidentin der Lesbenorganisation Schweiz LOS.

Als langjährige LGBTIQ-Aktivistin baute sie Mitte der 1980er-Jahre die Lesbenberatungsstelle Zürich mit auf und gehört zu den Gründerinnen der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) im Jahre 1989.

Sie war Mitinitiantin der Petition „Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare“ (1994) und engagiert sich seit Jahrzehnten für LGBT+-Rechte , einschliesslich der eingetragenen Partnerschaft (2007), der Ausweitung der Rassismus-Strafnorm (2020) und der Legalisierung der Ehe für alle (2022).

Editiert von Marc Leutenegger

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